Im Hinblick auf die historische Ausdifferenzierung der Anerkennungssphäre Liebe macht Honneth zwei parallele Prozesse aus, die sich mit sozialhistorischen Erkenntnissen decken: die Kindheit wird institutionalisiert und die Eltern-Kind-Beziehung bzw. die Paarbeziehung emotionalisiert. 110Interessant ist auch, dass sich Familien- und Paarbeziehungen durch eine „prekäre Balance zwischen Selbständigkeit und Bindung“ 111auszeichnen. Einerseits besteht eine enge, reziproke Verwie-senheit auf den konkreten, partikularen Anderen. Andererseits bedeutet dies nicht, dass die Individuen in einer solchen Beziehung wie in einer symbiotischen Einheit aufgehen und darin ihre Individualität verlieren, im Gegenteil: Familien- und Paarbeziehungen sind durch eine reziproke Anerkennung der jeweiligen Individualität des Anderen gekennzeichnet. Autonomie wird hier gewährleistet oder in der Eltern-Kind-Beziehung überhaupt erst ermöglicht. 112
Die Pointe einer Liebesbeziehung als Anerkennungssphäre besteht also darin, dass Individuen Anerkennung gerade für ihre Individualität erhalten. Im Aushalten und Meistern der Spannung zwischen symbiotischer Selbstpreisgabe und individueller Selbstbehauptung hat das Subjekt die Möglichkeit, die erste Form des Selbstverhältnisses zu entwickeln, das Selbstvertrauen, welches durch affektive Zuwendung ausgebildet und gestärkt wird. In dieser Sphäre ausgebaut, ist es für die folgenden Sphären prägend, da hier die emotionale Sicherheit aufgebaut wird, die für die Ausbildung aller weiteren Einstellungen der Selbstachtung vorausgesetzt werden muss.
Darüber hinaus bildet diese ontogenetische Perspektive auch das motivationale Bindeglied zwischen einer rekonstruktiven Gesellschaftskritik und potentiellem Widerstand. Wenn die Motivation für gesellschaftliche Kämpfe um Anerkennung nicht primär in der Orientierung an Ideen oder Prinzipien liegt, sondern in der Missachtungs- und Verletzungserfahrung intuitiver Gerechtigkeitsvorstellungen, dann bildet die erste Anerkennungssphäre eine wichtige Folie für die Identifikation von Missachtungserfahrungen. 113
2.2.3.2 Recht: Rechtliche Anerkennung und Selbstachtung114
Die zweite Stufe bildet die rechtliche Anerkennung, also die Anerkennung „eines jeden als ein autonomes, zurechnungsfähiges Handlungssubjekt“ 115, die den bisher begrenzten kommunikativen Rahmen der Liebes- und Freundschaftsbeziehungen und somit auch den Interaktionsbereich des Individuums erweitert. Es handelt sich auf dieser Stufe um kognitiv-formelle Anerkennungsverhältnisse, wobei das Recht die hier vorherrschende Anerkennungsform darstellt. Das Subjekt wird auf dieser Ebene nicht mehr nur in seiner Bedürfnisstruktur anerkannt, sondern als eine abstrakte Rechtsperson in seiner formellen Autonomie. Durch die in Rechtsverhältnissen erfahrene soziale Anerkennung und durch den darin unabhängig von persönlicher Wertschätzung erbrachten Respekt kann das Subjekt sein in der Primärbeziehung erworbenes Selbstvertrauen durch ein weiteres Element der Selbstbeziehung erweitern, die Selbstachtung, in welcher es sich als verantwortlich Handelnder erfährt. Das Subjekt kann sich selber achten, weil es die Achtung aller anderen verdient. 116
Die Form der rechtlichen Anerkennung setzt für Honneth ein postkonventionelles Entwicklungsniveau des Moral- und Rechtsverständnisses innerhalb einer Gesellschaft voraus. Dies zeigt sich daran, dass sich die Mitglieder einer Gesellschaft unter Reziprozitätsgesichtspunkten gegenseitig als freie Personen achten und ihre individuelle Autonomie bzw. „moralische Zurechnungsfähigkeit“ 117innerhalb der Gesellschaft so garantieren, „dass ihr ein rechtlich institutionalisierter Daseinsraum selbstverantwortlicher Freiheit gewährleistet ist“ 118. Die Reziprozität der rechtlichen Anerkennungssphäre muss dabei durch zwei Gesichtspunkte gewährleistet werden: durch Legalität und Legitimität. Die Legalität bezieht sich auf den Gesetzesgehorsam von Subjekten innerhalb einer Gesellschaft, welcher von moralischen Motiven abgekoppelt werden muss. Somit folgt das einzelne Individuum den allgemeinen, für alle gültigen Gesetzen, schränkt seine Handlungsfreiheit ein und erkennt damit die gleiche Personenqualität aller anderen an. Die Perspektive der Legitimität verpflichtet die Mitglieder einer Gesellschaft dazu, ihre gesetzlichen Regelungen darauf hin zu überprüfen, ob sie dem Kriterium allgemeiner Zustimmungsfähigkeit entsprechen. „Gesetze müssen um der gleichen Freiheit aller willen anerkennungswürdig sein.“ 119Ins Negative gewendet wären also jene rechtlichen Verhältnisse zu kritisieren, die die gleiche Freiheit aller verletzen und somit rechtliche Anerkennung verweigern. Eine Aufmerksamkeit gegenüber „Deformationen der Freiheit“ bildet dann die Grundlage für den Einsatz für wirksame rechtliche Schutzinstrumentarien, wobei evident erscheint, dass es sich auch im Bereich der rechtlichen Anerkennung nicht um einen konfliktfreien Vorgang, sondern ebenfalls um einen Anerkennungskampf handelt, da unterschiedliche Wertpräferenzen aufeinanderstoßen. 120
Historisch zeigt sich außerdem, dass die rechtliche Garantie individueller Freiheit nur unter Bedingung politischer Teilhabe an der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung ihren Sinn erhalten kann, wozu die Sicherung substanzieller, sozialer Mindeststandards notwendig ist. 121
Gerhard Luf weist darauf hin, dass insbesondere in Bezug auf die Legitimationsperspektive in der rechtlichen Anerkennungssphäre die Frage aufkommt, welchen Inhalt und Umfang die reziproke Anerkennung der Person in rechtlicher Hinsicht hat, da es „nicht allein um die Anerkennung der abstrakten Rechtssubjektivität eines jeden Menschen gehen [kann | BK], sondern um ein differenziertes System rechtlicher Garantien, das freilich dem geschichtlichen Wandel unterworfen ist“ 122. Genau das meint Honneth, wenn er schreibt, dass mit reziproker Anerkennung moralischer Zurechnungsfähigkeit auf rechtlicher Ebene, die alle Subjekte teilen sollen, „nicht menschliche Fähigkeiten gemeint sein [können], die in ihrem Umfang oder ihrem Inhalt ein für allemal festgelegt sind; es wird sich vielmehr zeigen, daß aus der prinzipiellen Unbestimmtheit dessen, was den Status einer zurechnungsfähigen Person ausmacht, eine strukturelle Offenheit des modernen Rechts für schrittweise Erweiterungen und Präzisierungen resultiert“ 123. So kann es (auf rechtlicher Ebene) keine Abstufungen in der Anerkennung des Menschen als Person geben, wohingegen die soziale Wertschätzung bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen durchaus einen Maßstab erfordert, der ihre graduelle Bewertung erlaubt. Honneth wendet ein, dass „die Festlegung der Fähigkeiten, die den Menschen konstitutiv als Person auszeichnen […] von Hintergrundannahmen darüber, welche subjektiven Voraussetzungen zur Teilnahme an einer rationalen Willensbildung befähigen“ 124abhängig ist. Die insbesondere rechtliche Berücksichtigung dieser Eigenschaften sieht Honneth als anspruchsvolles Verfahren und als dynamischen Prozess kumulativer Erweiterung individueller Rechtsansprüche, „in dem der Umfang der allgemeinen Eigenschaften einer moralisch zurechnungsfähigen Person sich schrittweise vergrößert hat, weil unter dem Druck des Kampfes um Anerkennung stets neue Voraussetzungen zur Teilnahme an der rationalen Willensbildung hinzugedacht werden mußten“ 125. Dieser dynamische Prozess der Erweiterung zeichnet sich also in Bezug auf den erfassten Personenkreis durch eine Tendenz zur Generalisierung und in Bezug auf die Differenziertheit der Schutzgarantien durch eine Tendenz zur Materialisierung aus. 126
Einen motivationalen Faktor für den Kampf um Anerkennung im rechtlichen Bereich bildet historisch betrachtet die Institutionalisierung der bürgerlichen Freiheitsrechte, die einen andauernden Innovationsprozess eröffnet hat: zu den Freiheitsrechten traten auf Druck benachteiligter Gruppen Teilhaberechte am Prozess der öffentlichen Willens- und Meinungsbildung hinzu und außerdem Rechte, die ein Mindestmaß an Bildung und ökonomischer Sicherheit zusprechen. 127Insgesamt birgt die rechtliche Anerkennung also das moralische Potential, „das über soziale Kämpfe in Richtung einer Steigerung sowohl von Allgemeinheit als auch von Kontextsensibilität entfaltet zu werden vermag“ 128.
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