Kernpunkt des Konkordatsentwurfs – der unter anderem viele Reformanliegen Wessenbergs wie die Klerusbildung und -fortbildung enthielt – betraf den Vorschlag, die deutsche Kirche in drei Kirchenprovinzen mit je einem Erzbischof in Mainz, Salzburg und Münster zu gliedern und den Erzbischof von Mainz als ehemaligen Kurfürsten und Reichserzkanzler mit der „Würde eines Primas der deutschen Kirche“ zu bekleiden. Er sollte unbeschadet der Rechte der beiden anderen Erzbischöfe den ersten Rang unter ihnen einnehmen und den Vorsitz in allen Versammlungen der deutschen Bischöfe – die seit Jahrhunderten nicht mehr gemeinsam getagt hatten – innehaben. 46 Kraft päpstlicher Übertragung sollte ihm, zusammen mit dem ältesten Bischof der jeweiligen Provinz, – nicht einem Nuntius – die Führung der Informativprozesse über die kanonische Eignung der neugewählten Bischöfe 47 sowie „die Korrespondenz und Leitung der Verhandlungen in allen gemeinsamen Angelegenheiten der deutschen Kirche mit dem Päpstlichen Stuhle sowohl, als der obersten Bundesbehörde“ vorbehalten sein. 48 Mit anderen Worten: Wessenberg intendierte, ganz im Sinne Dalbergs, eine primatiale Verfassung der deutschen Kirche zur Wahrung möglichster Eigenständigkeit in ihren ureigensten Belangen, entsprechend ihrer tausendjährigen Tradition, gleichwohl in durchaus enger Bindung an den Heiligen Stuhl. Die deutschen Bundesstaaten sollten zur Dotation der Erzbischöfe, Bischöfe, Domkapitel und diözesanen Einrichtungen wie der Priesterseminare entsprechend der Zusicherung des Reichsrezesses von 1803 verpflichtet werden, und zwar in Form von liegenden Gütern in kirchlicher Selbstverwaltung 49 : „Die Verbindlichkeit dazu haftet als heilige Schuld auf den säkularisirten geistlichen Staaten“ 50 , d.h. der Reichsdeputations-Hauptschluss, als Reichsgesetz mit dem Untergang des alten Reiches erloschen, sollte gleichwohl weiterhin Rechtsgeltung behalten (was de facto auch geschah). Aber den Staaten sollten auch weitreichende Rechte eingeräumt werden, vor allem bei der – aus damaliger staatlicher Sicht brisanten – Neubesetzung der Bischofsstühle und Domkapitel. Hier war vorgesehen, dass der zuständige Landesherr aus einem innerhalb dreier Monate nach Eintritt der Vakanz durch Wahl zu bestimmenden Dreiervorschlag des jeweiligen Domkapitels ein ihm genehmes „Subject“ auswählen könne, welches sodann vom Domkapitel dem Papst zur Bestätigung präsentiert werden sollte. 51 Für die Besetzung der Domkapitelspräbenden war im Entwurf ein Dreiervorschlag des jeweiligen Bischofs vorgesehen, aus dem der Landesherr einen ihm genehmen Kandidaten auswählen sollte 52 – Vorschläge, die nachmals, gewiss in kanonistischen Modifikationen, in die Vertragsabschlüsse der einzelnen deutschen Staaten mit dem Heiligen Stuhl eingingen, wenn auch päpstlicherseits nur als erzwungen zugestandene Konzessionen.
In den beigegebenen Überlegungen wird der Vorschlag einer primatialen Verfassung mit der Notwendigkeit begründet, der deutschen Kirche „Einheit und Zusammenhang“ zu geben als Grundvoraussetzung, damit sie „die ihr zur nützlichen Würksamkeit nöthige Selbständigkeit und Würde erlangen“, „den Anmassungen der Römischen Kurie hinreichenden Widerstand leisten“ (Wessenberg unterschied mit Grund zwischen Papst und Kurie) und so „im Stande seyn“ könne, „eine reine Disziplin zu handhaben, und gemeinsames Fortschreiten in der wahren Bildung der Völker zu befördern“ 53 . Dagegen würde eine „Kirchen-Einrichtung durch Privat Konkordate “ zwischen den einzelnen deutschen Höfen und Rom die erwünschte „Gleichförmigkeit“ solcher Einrichtung behindern und „dem Römischen Hofe die größte Leichtigkeit verschaffen, das Divide et impera zu spielen“ 54 . „Ohne Primas, der das Band der Einheit in dem deutschen Episkopat befestige, die Relationen der Bischöfe mit Rom unterstütze, … und nach Erforderniß ihre Gerechtsame vertheidige, wäre die deutsche Kirche in jeder Hinsicht in einer ungünstigern Lage, als die Kirche[n] jeder andern Nation …. Sie würde keinem Angriff auf ihre Verfassung und Rechte, er möchte von Staatsbehörden oder von Römischen Kurialisten geschehen, lange würksame Gegenwehr zu leisten vermögen. Die Nachgiebigkeit und Schwäche des Einzelnen würde den Nachtheil des Ganzen nach sich ziehen“ 55 . Zudem würde, wenn der Primas die Informativprozesse über neu gewählte Bischöfe führte, eine ungebührliche Verzögerung der Besetzung vakanter Bischofsstühle durch Rom „aus Gründen, die der Religion und der wesentlichen Kirchenverfassung fremde sind“, verhindert, da in solchen Fällen der Primas einem für fähig und würdig erkannten Kandidaten „nach Verfluß des kanonischen Termins [d.h. nach sechs Monaten], die kanonische Bestätigung zu erteilen habe“, entsprechend den Verordnungen der frühesten Konzilien und „der Praxis der zwölf ersten Jahrhunderte des Christenthums“ 56 , wie Wessenberg hier allerdings gut gallikanisch oder febronianisch 57 argumentierte. Doch Wessenbergs (und gleicherweise Dalbergs) febronianisch (oder episkopalistisch) geprägte Auffassung vom Verhältnis des Episkopats zum Papsttum war damals nördlich der Alpen vorherrschende Lehre der Theologen und Kanonisten. 58
Die Dotation der Bischofsstühle, Domkapitel und zentralen Diözesaneinrichtungen durch liegende Güter unter kirchlicher Selbstverwaltung (als unabdingbare Ersatzleistung der Säkularisationsgewinnler) erschien Wessenberg nach den Erfahrungen seit 1803 notwendige Voraussetzung unabhängigen kirchlichen Wirkens. „Der Beruf des geistlichen Standes“, der „ein anderes Reich, als das irdische … zum Ziele seiner Bestrebungen“ habe, fordere „eine freye, unabhängige Seele“, weshalb es nicht gut wäre, seine Subsistenz „von der Willkühr des weltlichen Armes“ abhängig zu machen, was aber „mit Besoldungen verbunden“ sein würde. 59 Des weiteren plädierte Wessenberg dafür, dass Bischof und Domkapitel als „Gutbesitzer“ auch Mitglied der Landstände sein sollten, um „dadurch in das gemeinsame Interesse des Vaterlands verflochten [zu] werden, und an den Vortheilen und Lasten der Staatsverwaltung unmittelbaren Antheil [zu] nehmen“ 60 . In einer „ansehnliche[n] Ausstattung“ der kirchlichen Anstalten sah er nicht zuletzt auch einen Gewinn der deutschen Staaten, da „die ächte Grundbildung des Volkes … vorzüglich von der Beschaffenheit dieser Anstalten“ abhänge, denn: „Rohe und unwissende Seelsorger sind die ärgste Landplage. Ausserdem daß sie unfähig sind, zur bessern Bildung des Volkes beizutragen, sind sie noch das stärkste Hinderniß derselben“ 61 .
Wessenbergs Entwurf strafte alle Lügen, die ihm Staatshörigkeit und Auslieferung der Kirche an den Staat unterstellten. Jedoch lag ihm daran, dass zwischen den beiden Institutionen Kirche und Staat, „wovon die eine die innere sittlich religiöse Ordnung, die andere aber die äussere, polizeiliche und rechtliche Ordnung zum Zwecke hat, … freundliches Einvernehmen“ herrsche und beide „sich zur Förderung alles dessen, was die Wohlfahrt der Völker verlangt, die Hände biethen“ 62 . Dagegen sah er den Sinn eines Konkordats nicht darin, dass sich die Kirche in ihm einseitig ihre privilegierte Stellung verbriefen lasse und dem Staat die dazu erforderlichen finanziellen Lasten aufbürde, sondern dass in ihm beide Institutionen zu einem Ausgleich ihrer gegenseitigen gerechten Ansprüche gelangen, zum Wohl der Menschen, zur Beförderung ihres „Glücks“ (um es „aufgeklärt“ zu formulieren). 63
Doch die Kirchenfrage spielte auf dem Wiener Kongress eine untergeordnete Rolle. Bereits erste Anläufe zu einer Ausdehnung der Bundeskompetenz auf die kirchlichen Angelegenheiten stießen auf den entschiedenen Widerspruch vor allem der königlich-bayerischen Regierung, die mit allen Mitteln die konkordatäre Gründung einer Landeskirche unter ihrer Kuratel anstrebte. 64 Schließlich wurde die Kirchenfrage auf die in Frankfurt anberaumte erste Bundesversammlung vertagt. Wessenberg suchte die Zwischenzeit für intensive Verhandlungen mit den einzelnen deutschen Höfen zu nützen. Aber als diese Versammlung mit einjähriger Verspätung Anfang November 1816 endlich stattfand, war die Kirchenfrage obsolet geworden. Sie kam dort gar nicht mehr auf die Tagesordnung. Die einzelnen Bundesstaaten hatten sich nach dem Beispiel Bayerns für Partikularverträge mit Rom entschieden, und die Römische Kurie schwenkte entsprechend diesen Wünschen auf separate Vertragsverhandlungen mit den einzelnen deutschen Staaten ein. 65 In Rom trauerte man dem Untergang der allzu selbstbewussten Reichskirche keineswegs nach, vielmehr ergriff man dort diese Zäsur nunmehr als willkommene Gelegenheit mit dem erklärten Ziel, die vertragliche Neuorganisation der Kirchen in den deutschen Ländern einseitig als Akt päpstlicher Vollgewalt darzustellen und damit endlich die römischkanonistische Rechtsauffassung von der plenitudo potestatis des Papstes über die Gesamtkirche und jede Einzelkirche zumindest auf dem Papier „festzuschreiben“ und so faktisch zur Anerkennung zu bringen. Der Text des Bayerischen Konkordats von 1817 (siehe hier Art. I) und der für die übrigen Länder „kraft apostolischer Machtvollkommenheit“ erlassenen päpstlichen Zirkumskriptionsbullen belegt, dass der Römischen Kurie dies auch glückte – in ihrer papalistisch orientierten Zielsetzung zweifellos ein „Etappensieg“. Tatsächlich aber interpretierten und vollzogen die einzelnen deutschen Souveräne, gleich ob katholisch oder protestantisch, ihre mit Rom geschlossenen Verträge nach Napoleons Beispiel „organisch“ nach Maßgabe ihrer staatskirchlichen Prinzipien. Zwar statteten sie ihre nun päpstlich errichteten katholischen „Landeskirchen“ finanziell angemessen aus, unterwarfen sie aber auf Jahrzehnte hin ihrer Staats- und Polizeigewalt, mit den bekannten Folgen bis hinein in die Kulturkämpfe des endenden 19. Jahrhunderts. Ob ein Primas an der Spitze einer geeinten deutschen Kirche ausgleichender hätte wirken können, bleibt allerdings eine offene Frage.
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