Unser professioneller Ansatz ist daher ein anderer: Unter Ethik verstehen wir einen diskursiven Prozess zur Erörterung von Handlungsmöglichkeiten. Ethikfähigkeit ist also primär Entscheidungskompetenz, nicht bloß der automatische Vollzug von vernunftbasierten Regeln. Damit der ethische Prozess gelingen kann, sind gewisse innere Einstellungen und Haltungen der Beteiligten notwendig. Erst die Auffassung von Ethik als Prozess ermöglicht es, wirklich tragfähige Brücken zu bauen. Ethisch belastbare Brücken verbinden die ökonomischen Anforderungen mit anderen Aspekten der Wirklichkeit im Sinne einer integrativen „Sowohl-als-auch“-Haltung. Mit einer regelbasierten und ausschließenden „Entweder-oder“-Mentalität wird es hingegen sehr schwierig, die Herausforderungen der vielschichtigen und mitunter auch widersprüchlichen Wirklichkeit gemeinsam zu bewältigen.
3. Neue Anforderungen an eine „angemessene Risiko-Kultur“
Die BaFin hat gemeinsam mit der Bundesbank am 19. Februar 2016 einen Konsultationsentwurf für eine Neufassung der Ma-Risk (= Mindestanforderungen an das Risikomanagement) veröffentlicht. Wie bereits in dem BaFin-Fachartikel Risiko-Kultur: Anforderungen an eine verantwortungsvolle Unternehmensführung im Sommer 2015 angekündigt, plant die BaFin, in die MaRisk künftig Anforderungen an eine „angemessene Risiko-Kultur“ der Finanzinstitute aufzunehmen. Im Allgemeinen Teil 3 (= AT) wird in der MaRisk-Novelle folgender neue und entscheidende Satz eingefügt: [Zur Verantwortung der Geschäftsleiter] zählt auch die Entwicklung, Förderung und Integration einer angemessenen Risiko-Kultur innerhalb des Instituts und der Gruppe .
Was aber ist eine „angemessene Risiko-Kultur“? Risiko-Kultur wird in der Erläuterung zu AT 3 Tz. 1 wie folgt beschrieben: „ Die Risiko-Kultur beschreibt allgemein die Art und Weise, wie Mitarbeiter des Instituts im Rahmen ihrer Tätigkeit mit Risiken umgehen (sollen). Die Risiko-Kultur soll die Identifizierung und den bewussten Umgang mit Risiken fördern und sicherstellen, dass Entscheidungsprozesse zu Ergebnissen führen, die auch unter Risikogesichtspunkten ausgewogenen sind. Kennzeichnend für eine angemessene Risiko-Kultur ist vor allem das klare Bekenntnis der Geschäftsleitung zu risikoangemessenem Verhalten, die strikte Beachtung des durch die Geschäftsleitung kommunizierten Risikoappetits durch alle Mitarbeiter und die Ermöglichung und Förderung eines transparenten und offenen Dialogs innerhalb des Instituts zu risikorelevanten Fragen.“
Diese Sätze klingen gewiss bedeutungsvoll. Aber was wird von MitarbeiterInnen und ManagerInnen nun konkret erwartet? Welchen persönlichen Beitrag können und sollen sie persönlich in ihrem täglichen Geschäft zur Etablierung einer angemessenen Risiko-Kultur leisten? Und warum verwendet die BaFin den Begriff „Kultur“ – und nicht beispielsweise: „angemessenes Risiko-Management“? Die verwendeten Begriffe Risiko-Kultur und Risikoappetit zeigen, dass es der Aufsicht um viel mehr geht als um Zahlen, Daten oder Fakten. Die Anforderungen richten sich an die Menschen selbst. An ihre inneren Haltungen und Einstellungen im Umgang mit dem Risiko. Risikokennziffern werden von Computern berechnet, die Risiko-Kultur aber wird vom Management und von allen Angestellten gemeinsam kultiviert.
Markus HOFER von der BaFin erläutert: „ […] eine angemessene Risiko-Kultur umfasst aber eindeutig mehr als die Kommunikation von Risikotoleranzen, die Entwicklung eines Limitsystems, mittels dessen Risiken begrenzt werden, und die Überwachung der Einhaltung dieser Limits. Vielmehr geht es auch um die Förderung eines kritischen Dialogs innerhalb des Instituts – nicht nur auf den Führungsebenen –, der die frühzeitige Identifizierung von Risiken ermöglicht. Vor allem aber müssen die Institute ein Wertesystem einrichten, dem sich alle Mitarbeiter verpflichtet sehen. Wie die Institute zu diesem Ziel gelangen, bleibt ihnen selbst überlassen; wesentlich wird sein, die Mitarbeiter zu motivieren und zu überzeugen, sich entsprechend des Wertesystems ethisch und ökonomisch wünschenswert zu verhalten “ 8
Erinnern wir uns kurz daran, was Kultur eigentlich bedeutet. Das Wort leitet sich vom lateinischen Begriff cultura ab, der mit „Pflege“, „Bearbeitung“ oder „Ackerbau“ übersetzt wird. Das lateinische Verb colere bedeutet „bebauen“ oder „pflegen“. Wir Menschen gestalten – kultivieren – also zunächst aus der zugrundeliegenden Natur. Kultur im weiteren Sinn umfasst menschliches Wissen, Kunst, Glauben, Ethik, Recht, Wirtschaft usf. Sie drückt sich aus in Lebensstilen, Weltanschauungen und Werten, wird sichtbar im „Zeitgeist“ der jeweiligen Epoche. So gesehen gibt es nicht die Kultur, sondern eine Vielzahl von sich entwickelnden Kulturen.
Das GABLER-WIRTSCHAFTSLEXIKON definiert Unternehmenskultur als „ Grundgesamtheit gemeinsamer Werte, Normen und Einstellungen, welche die Entscheidungen, die Handlungen und das Verhalten der Organisationsmitglieder prägen“ . Risiko-Kultur schließlich beschreibt die Art und Weise, wie das unternehmerische Risiko durch die Mitarbeiter „kultiviert“ werden soll. Es geht um ethisch und ökonomisch vernünftiges und wünschenswertes Verhalten. Dabei kommt dem Entwicklungsaspekt große Bedeutung zu: Wie steht es um die aktuelle Risiko-Kultur eines Unternehmens? Vor allem aber: Wie kann sie gefördert und weiterentwickelt werden?
Die BaFin betont zunächst die besondere Verantwortung der Geschäftsleitung: Die Geschäftsleitung muss den Risikoappetit kommunizieren und einen offenen Dialog zu risikorelevanten Fragen ermöglichen und fördern. Da Risikokulturentwicklung offizielle Chefsache ist, müssen ManagerInnen künftig auch nachweislich ethikfit sein. Auch wenn die Führungskräfte eine besondere Verantwortung tragen bei der Entwicklung und Kommunikation der angemessenen Risiko-Kultur, so können die übrigen Angestellten ihre persönliche Verantwortung für die Risiko-Kultur nicht delegieren. Ganz im Gegenteil! Die Umsetzung der Risikovorgaben – des „Risikoappetits“ – bei den unmittelbaren täglichen Aufgaben und Entscheidungen ist die eigentliche Basis der angemessenen Risiko-Kultur. Sie wächst gewissermaßen von unten nach oben – gemäß den von oben nach unten klar kommunizierten Vorgaben. Und mehr noch: Jeder Mitarbeiter muss auch dazu bereit sein, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, und sich bemühen, die Risikorelevanz des unmittelbaren Geschäftsbereiches auch im Gesamtzusammenhang zu verstehen. Eben dazu ist die Dialogbereitschaft – der offene Austausch – mit MitarbeiterInnen, KollegInnen und Führungskräften wesentlich. Risikobewusstsein muss auf allen Ebenen angemessen kultiviert werden. Im Ba-Fin-Fachartikel wird an einer Stelle festgestellt: „ Sowohl Geschäftsleitung als auch Mitarbeiter des Unternehmens sollen ihre Tätigkeit am Wertesystem, am festgelegten Risikoappetit und den bestehenden Risikolimits ausrichten. Dafür sind sie jeweils selbst verantwortlich (Accountability). Sie sollen sich über die Konsequenzen bewusst sein, die drohen, wenn sie die von ihnen erwarteten Verhaltensweisen nicht erfüllen, wenn sie also zum Beispiel zu hohe oder nicht gewünschte Risiken eingehen oder nicht tolerierte Geschäftsaktivitäten und -praktiken entwickeln. Konsequenzen können zum Beispiel disziplinarische Maßnahmen wie Kürzungen der Boni, Abmahnungen oder im Extremfall auch Kündigungen sein.“
Doch nicht alleine die oben erwähnten unangenehmen möglichen Konsequenzen „motivieren“ das persönliche Verantwortungsbewusstsein, sondern die Bewusstwerdung der Tatsache, dass die Auswirkungen eines massiven Risiko-Störfalles wirklich ausnahmslos alle MitarbeiterInnen einer Bank betreffen können. Wenn es ums Risiko geht, sitzen tatsächlich alle im gemeinsamen Boot! Jede unangemessene Entscheidung – auch wenn sie zunächst nicht unmittelbar mit quantifizierbarem Risiko in engerem Sinn in Verbindung gebracht werden kann – kann potentiell einen großen Reputationsverlust bewirken. Der bewusste Umgang mit Reputationsrisiken gehört daher zweifelsohne zur angemessenen Risiko-Kultur. Die BaFin fordert, „ dass Entscheidungsprozesse zu Ergebnissen führen, die auch unter Risikogesichtspunkten ausgewogen sind“ . Jede unternehmerische Entscheidung muss daher unter Reputationsrisiko-Gesichtspunkten angemessen sein. Und jede angemessene unternehmerische Entscheidung ist eine ethische Entscheidung – und umgekehrt. Da die allgemeine Art und Weise der Entscheidungsfindung die Unternehmenskultur so wesentlich prägt, ist die angemessene Risiko-Kultur das Herzstück einer ethischen Unternehmenskultur. Mit ihren neuen Anforderungen hat die BaFin deutlich auf jene Missstände und Phänomene ökonomischer Hybris und Unkultur reagiert, die nachfolgend in 4. detaillierter beschrieben werden. Die nachhaltige Kultivierung einer ethischen Unternehmenskultur wird aber nur gelingen, wenn möglichst viele Akteure der Finanzindustrie ihre persönliche Mentalität kritisch überprüfen und verändern. Sonst besteht die reale Gefahr, dass die schönen Worte der BaFin wirkungslos bleiben.
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