Publiziert mit der Unterstützung der Pädagogischen Hochschule Bern und der Stiftung Mercator Schweiz.
Regula Windlinger, Laura Züger
Arbeitsplatz Tagesschule
Zur Situation in Einrichtungen der schulergänzenden Bildung und Betreuung
ISBN Print: 978-3-0355-1628-9
ISBN E-Book: 978-3-0355-1629-6
1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 hep Verlag AG, Bern
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Mein ganzes Berufsleben wurde vom Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf überschattet … Als junge Frau erfuhr ich von einem älteren Vorstandsmitglied meiner Frauenzentrale, dass das kein Thema sei, sie hätte schliesslich auch zwischen Beruf und Familie wählen müssen! Es sei nur normal, dass auch junge Frauen eine Wahl treffen müssten …
30 Jahre hat es gedauert, bis das Dogma der Unvereinbarkeit dem Ziel der Vereinbarkeit gewichen ist.
Zu viele Mütter verzichteten auf die Option Beruf, viele unter Inkaufnahme empfindlicher finanzieller Nachteile, manche aus Bequemlichkeit und einige, weil sie sich als Vollzeit-Mütter definierten.
Dass dabei das Kindesinteresse – von Ausnahmen abgesehen – kaum gewahrt wurde, schien nicht der Rede wert.
Was, bitte schön, ist an der Tatsache sozial, wenn manche Mütter zu Hause mit einem warmen Mittagessen aufwarten, während sich Schlüsselkinder mit halbwegs aufgetauter Tiefkühlkost zufriedengeben müssen?
Einige Kinder haben in einer zweistündigen Mittagpause einen Weg von einer Stunde hinter sich zu bringen, nicht immer vom Verkehr geschützt, andere sind in fünf Minuten zuhause, finden noch Zeit für ein Nickerchen oder ihr Lieblingsspiel. Gerecht?
Allen Kindern falle es, so ist von der Seite der Lehrpersonen zu hören, schwer, sich nach der auswärtigen Mittagspause wieder in den Schulbetrieb einzufinden. Für viele Lehrerinnen und Lehrer ein unnötiger Zeit- und Kraftverschleiss.
Der Mittagstisch bietet mancher Lehrperson die Gelegenheit, in privaten Gesprächen das Vertrauen zu den Schülern zu vertiefen und solchermassen heiklen Themen wie etwa den «Daheimnissen» (Geheimnisse in der Familie), Mobbing und anderem Schülerstress auf die Spur zu kommen.
Und die nachschulische Betreuung ermöglicht es der Lehrerschaft, sich auf individuelle Lerndefizite ihrer Schülerinnen und Schüler zu konzentrieren; sie erhöht damit die Chancengleichheit auf der Bildungsebene.
Die Tagesschule garantiert fast jeder Familie sich finanziell mithilfe des Frauenlohns über Wasser halten zu können.
Kurzum: Die Tagesschule, die schulergänzende Bildung und Betreuung, ist zweifellos die sozialste, die gerechteste und die bildungsfreundlichste Form der Schule.
Wer das erkannt hat, wird sich dafür einsetzen müssen, dass die Struktur und damit das Gelingen der Tagesschule garantiert wird. Und da scheint es mir selbstverständlich zu sein, dass die Arbeitsbedingungen der Schülerbetreuung optimiert werden müssen, sodass diese zum Gelingen des Projekts Ganztagesschule beitragen wird.
Nach 30 Jahren Ringen um Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden wir es wohl noch schaffen, die Arbeitsmodalitäten des dafür notwendigen Personals richtig hinzukriegen, nicht wahr?
Dieses Buch schafft dafür eine Grundlage, indem es die Anstellungs- und Arbeitsbedingungen des Personals darstellt und Handlungsfelder identifiziert für die weitere Entwicklung.
Dr. Ellen Ringier, Präsidentin Stiftung Elternsein und Herausgeberin von «Das Schweizer Elternmagazin Fritz+Fränzi»
Februar 2020
Dieses Buch ist aus einem Forschungsprojekt der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern) entstanden. Wir haben den prägnanten Projekttitel «Arbeitsplatz Tagesschule» auch für dieses Buch übernommen. Da der Begriff «Tagesschule» in der Deutschschweiz zwar oft für die schulergänzende Betreuung insgesamt verwendet wird, aber gleichzeitig auch die entsprechenden Einrichtungen im Kanton Bern bezeichnet, verwenden wir im Buch den Begriff «Einrichtungen der schulergänzenden Bildung und Betreuung».
1.1 Was sind Einrichtungen der schulergänzenden Bildung und Betreuung?
Die institutionelle schulergänzende Bildung und Betreuung (SEBB) beinhaltet die formelle und regelmässige Betreuung von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen ausserhalb der obligatorischen Schulstunden in privaten oder öffentlichen Einrichtungen und hebt deren Bildungsanspruch hervor (vgl. EDK & SODK, 2018; Schüpbach, 2010). Die Vielfalt der Angebote im Bereich SEBB ist in der Schweiz gross und spiegelt sich in den lokal unterschiedlichen Begriffen wider. Es gibt diesbezüglich keine einheitlichen Bezeichnungen für die Angebote. Schüpbach (2010) unterscheidet Einrichtungen, in welchen Unterricht und Angebote ausserhalb des Unterrichts in eine ganztägige Struktur integriert sind («gebundene Tagesschule») von Einrichtungen, welche neben dem obligatorischen Schulunterricht verschiedene ergänzende Angebote anbieten (z.B. Mittagstisch, Hausaufgabenhilfe), die freiwillig wählbar sind («modulare Tagesstruktur»). In der Schweiz sind bis anhin Einrichtungen in Form von modularen Tagesstrukturen am häufigsten (vgl. Windlinger, 2016).
Da wir die Kantone Aargau, Bern und Solothurn untersucht haben, verwenden wir die kantonalen Begriffe, nämlich Tagesschulen und Tagesstätten (Tagis) für den Kanton Bern, Mittagstische und Tagesstrukturen für die Kantone Aargau und Solothurn. All diese Einrichtungen werden mit dem Oberbegriff «Einrichtungen der schulergänzenden Bildung und Betreuung» (SEBB) bezeichnet.
1.2 Wie haben sich die Einrichtungen der SEBB entwickelt?
Angebote im Bereich der schulergänzenden Bildung und Betreuung haben in den letzten Jahren in der Schweiz stark zugenommen und werden weiter ausgebaut. Lange Zeit bewegte sich jedoch in der ausserfamiliären Kinderbetreuung wenig, weil «der rasche Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegsjahrzehnte – in einem vom II. Weltkrieg nicht zerstörten Land […] dazu bei[trug], dass es sich in der Schweiz mehr junge Familien wirtschaftlich leisten konnten, die Mutter vollamtlich auf Haushaltsaufgaben und Kinderbetreuung zu verpflichten» (Bundesrat, 2017, S. 20). Deshalb sind in der Schweiz traditionelle Haushaltsstrukturen und Familienformen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern häufig (Bundesrat, 2017, S. 7).
Neue gesellschaftliche Entwicklungen und der familiale Wandel haben dazu geführt, dass mehr schulergänzende Bildung und Betreuung gefordert wurde und wird. An die SEBB werden entsprechend unterschiedliche wirtschaftliche, politische, pädagogische und gesellschaftliche Ansprüche und Erwartungen gestellt: Sie soll die Vereinbarkeit von Beruf und Familie unterstützen und Frauen vermehrt in die Erwerbsarbeit einbinden, was zudem dem prognostizierten Fachkräftemangel entgegenwirken soll (Eidg. Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung [WBF], o.J.; Forrer Kasteel & Shenton-Bärlocher, 2008). Schulergänzende Bildung und Betreuung soll ausserdem die Bildungschancen benachteiligter Kinder verbessern (Schüpbach, 2018b). Zudem hat die SEBB auch einen ökonomischen Vorteil, weil erwerbstätige Eltern mehr Einkommenssteuern bezahlen und weniger oft auf Sozialhilfebeiträge angewiesen sind (Guerra Lig-Long & Dietiker, 2011).
Verschiedene Interessengruppen unterstützen also den Ausbau der schulergänzenden Bildung und Betreuung mit unterschiedlichen Begründungen. Themen wie die Personalstruktur, die Arbeitsbedingungen und Fragen der Qualität stehen dabei aber oft nicht im Vordergrund (vpod, 2012) oder sind schwierig zu bearbeiten, da verlässliche Daten dazu fehlen.
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