Dieses Buch ist aus tiefer Verbundenheit mit dem bolivianischen Volk entstanden.
1. EINFÜHRUNG
1.1 Motivation
Das vorliegende Buch besteht aus einem Versuch, mitten im Prozess einen Moment anzuhalten, um aus einer gewissen Distanz zu beschreiben, was ich wahrnehme und spüre. Ich werde einzelne Bilder, Gefühle, Erlebnisse und Begegnungen aus meinem Erfahrungsschatz hervorholen, nochmals genau betrachten und dann wieder aufheben. Das Schreiben macht mir Spaß, es ist ein Stück Verarbeitung und meine Art, einer stellvertretenden Traumatisierung vorzubeugen. Zudem gehe ich davon aus, dass meine Befunde den Lesern und Leserinnen 1nützlich sein werden. Es ist mir wichtig, dass die Menschen in Bolivien von den Menschen am anderen Ende der Welt nicht vergessen und in ihrer Andersartigkeit verstanden werden. Dieses Buch ist einerseits das Ergebnis eines Forschungsprojektes zum Thema »Traumatische Erfahrungen und eigene Ressourcen jugendlicher Studierender in den Städten La Paz und El Alto in Bolivien«, das 2009 in eine Dissertation mündete und bereits auf Spanisch herausgegeben wurde (Jansen Estermann 2010). Andererseits beinhaltet es eine Zusammenfassung meiner persönlichen und beruflichen Erfahrungen als Gestaltpsychotherapeutin und Ausbildnerin während einer Zeitspanne von 15 Jahren in Lateinamerika.
Was mich damals bewegt hat, zuerst nach Peru und später nach Bolivien auszureisen, vermag ich nicht eindeutig zu erkennen. Im Nachhinein denke ich mir, dass der Stachel der Ungerechtigkeit und der Hang zum Abenteuer eine gewisse Triebfeder waren. Im Laufe der Zeit kam noch dazu, dass ich mich in Lateinamerika wie ein Fisch im Wasser fühle. Dies hat mit der zwischenmenschlichen Kommunikation zu tun, der Herzlichkeit und Körpernähe. Ich habe niemals erwartet, dass ich in La Paz ein Forschungsprojekt vorantreiben, den Doktor machen, einen Studiengang in › Psicoterapia Gestáltica ‹ aufbauen und eine Stiftung für Gestalttherapie gründen würde. Da kann ich nur staunen und es erfüllt mich eine große Dankbarkeit. Ich gehe davon aus, dass ich im richtigen Augenblick am richtigen Ort war – Kairos . Es waren aber die Menschen in La Paz, die positiv auf mein Angebot reagiert haben. Gemeinsam konnten wir in Übereinstimmung mit ihren Bedürfnissen dies alles erreichen. So haben sich die vereinzelten Puzzleteile des Lebens zu einem wunderbaren Netzgewebe gefügt. Dennoch möchte ich nicht verschweigen, dass die Entscheidung, trotz aller Fremdheit und Frustration über längere Zeit vor Ort weiterzumachen, auch sehr viel Kraft und Ausdauer gefordert hat.
Dieser langjährige Aufenthalt in einem fremden Kulturkreis hat mir aber die einmalige Chance gegeben, meinen unbewussten ›Introjekten‹ auf die Spur zu kommen. Mit diesem gestalttherapeutischen Begriff meine ich meine verschluckten, verinnerlichten Modelle oder anders gesagt, die Regeln, Normen, Vorgaben, geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze in unserer (europäischen) Umwelt (Hartmann-Kottek 2004: 266). Dieser allmähliche Bewusstwerdungsprozess, bei dem ich am eigenen Leibe erfahren musste, dass meine Selbstverständlichkeiten nur manchmal unter ganz bestimmten Umständen gegeben sind, war mühsam und schmerzhaft. So wird ›Freundschaft‹ oder ›Sicherheit‹ im bolivianischen Umfeld anders erlebt, als ich sie vorher gewohnt war. Das Lebensgefühl in Bolivien und die Bedeutung vieler Ausdrücke unterscheiden sich erheblich von denen in Deutschland, Holland oder der Schweiz. Die vorherrschenden Gewohnheiten in Bolivien sind nicht besser oder schlechter, sondern einfach anders. Gleichzeitig hat die Relativierung und sogar Zerstörung meiner Introjekte sehr befreiend auf mich gewirkt und schließlich zu mehr bewusster Selbstbestimmung geführt.
Der horizontale Dialog nach dem Ich-Du-Prinzip von Martin Buber stellt für mich in diesem interkulturellen Kontext nach wie vor eine spannende Herausforderung dar. Denn erstens sind die Verhältnisse unvorstellbar schräg. Während ich z. B. zu jeder Zeit nach Europa zurückkehren könnte, kann mein Gegenüber höchstens ein Touristenvisum beantragen, vielleicht bekommt er jedoch nicht einmal das. Zweitens bin ich nicht nur in meiner Tätigkeit als Psychotherapeutin, sondern auch als weißhäutige ausländische Frau in Bolivien eine ständige Projektionsfläche. Ob es zutrifft oder nicht: Ich werde hier aufgrund des in den Fernsehserien vermittelten Bildes einer Gringa als reiche, gut geschulte und privilegierte, gleichzeitig naive und sexuell freizügige Person gesehen, die leicht übers Ohr zu hauen ist, zu einem gewissen Vorschussvertrauen oder zu beruflichem Neid Anlass gibt. Drittens passieren immer wieder kleine, ungewollte und gegenseitige Verletzungen im Kontakt. So war die Frage einer unbekannten Person bei einem Fest, wann ich denn wieder fortgehe, wahrscheinlich gar nicht verletzend gemeint, da es in La Paz wegen der zahlreichen Botschaften und NGOs (Non-governamental organizations) von ausländischem Personal wimmelt, das etwa alle drei Jahre ausgewechselt wird.
Obwohl Gestalttherapeuten als Kontaktspezialisten gelten, hinterfrage ich regelmäßig mich und meine berufliche Wirksamkeit in einer Umgebung, die mir wohl immer fremd bleiben wird. Es gibt solche eigenartigen Gewohnheiten und Ausdrücke, die ich auch nach anderthalb Jahrzehnten in Lateinamerika noch nicht ganz verstehe. Zudem gelingt es den Menschen hier ziemlich oft, mich zu überraschen. Folglich gehe ich möglichst offen auf sie ein, hake immer wieder bei einem Wort oder einer Geste nach und bin ständig darauf bedacht, sie nicht zu vereinnahmen. Im Grunde genommen habe ich gerade als europäische Gestalttherapeutin in Bolivien eine spezifische Rolle und Aufgabe. Indem ich nämlich den Menschen zuhöre, ohne mir ein Urteil anzumaßen, ihnen mit tiefem Respekt begegne und mich auf die gleiche Ebene stelle, gebe ich ihnen gleichsam zurück, was die Conquistadores ihnen – neben dem Gold und Silber – weggenommen haben: das Vertrauen in sich selbst, in die eigene Kraft und besondere Fähigkeiten.
1.2 Die Geschichte Boliviens
Das Leben in Bolivien sieht anders aus als das in Europa, es spielt sich unter anderen Bedingungen und Umständen ab. Mir scheint es notwendig, den Kontext gleich am Anfang dieses Buches zu schildern, weil eine Figur ohne klaren Hintergrund nicht deutlich wahrgenommen werden kann – eine Erkenntnis, die aus der Gestaltpsychologie stammt. Ein echtes Verständnis der Resultate des Forschungsprojektes und meiner persönlichen bzw. beruflichen Erfahrungen in Bolivien ist nur aufgrund eines Wissens um dessen Geschichte und aktuelle Gesellschaft möglich. Zahllose Gegebenheiten, heftige Emotionsausbrüche, extreme Meinungen und Konflikte in der Gegenwart, 2die in den Augen eines Außenstehenden völlig unverständlich und irrational erscheinen, lassen sich größtenteils aus der Vergangenheit und dem zeitgenössischen sozio-politischen und wirtschaftlichen Kontext erklären.
Interessanterweise haben die bolivianischen Schulkinder ein Pflichtfach, das inhaltlich unter anderem aus dem Studium der Französischen Revolution besteht, während die Kinder in Europa in der Schule doch eher selten etwas über die Zeit der Militärdiktatur in Bolivien erfahren. Die heutige Regierung hat sich erst neulich zum Ziel gesetzt, das Erziehungswesen und überhaupt die öffentlichen Einrichtungen zu »entkolonialisieren«, wie sie selbst diesen politischen Schritt bezeichnet. In diesem Sinne war ich erstaunt, als ein Mitglied der Forschungsequipe, 3das ich beauftragt hatte, die Geschichte und aktuelle Lage seines Landes zu resümieren, mir eine trockene Abhandlung aufeinander folgender Epochen überreichte. Aus irgendwelchen Gründen hatte er keine einzige der haarsträubenden geschichtlichen Ungerechtigkeiten erwähnt und keinen einzigen der unpatriotischen Präsidenten beim Namen genannt. Wollte er nach einer nicht existierenden Objektivität vorgehen, sich gegenüber den Herrschenden seiner Heimat loyal zeigen oder sich nicht emotional aufwühlen lassen? Hatte er eine Lücke in seinem Geschichtsverständnis oder ausgerechnet diese Fakten einfach ›vergessen‹?
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