Die Pharmakonzerne scheinen begriffen zu haben, dass sie nur geschickter agieren müssen, um das gleiche Spiel weiter zu treiben, und dass, selbst wenn sie dabei Fehler machen, ihre Risiken gering sind. Sie müssen nur an den richtigen Schräubchen drehen und die richtigen Hebel in Bewegung setzen, um die richtigen Rädchen im Getriebe zu beeinflussen.
Das haben sie zum Beispiel im Zuge der Malversationen rund um das Schmerzmittel Vioxx begriffen, das der amerikanische Pharmakonzern Merck 2004 unter zunächst mysteriösen Umständen vom Markt nahm. Es herrschte allgemeine Verwunderung über die Entscheidung von Merck, an dessen Gesamtumsatz Vioxx bis dahin einen nennenswerten Anteil hatte.
Allmählich sickerte die Wahrheit durch. Eine von Merck finanzierte Studie sollte neue Anwendungsgebiete für das erfolgreiche Medikament erschließen. Konkret ging es um die Frage, ob das Schmerzmittel auch bei der Vorbeugung gegen bestimmte Dickdarmtumore wirksam wäre. Doch die sogenannte APPROVE Studie dokumentierte neben der erwarteten und erwünschten Wirkung auf die an sich gutartigen Dickdarmtumore auch sehr gefährliche Nebenwirkungen von Vioxx: Das Risiko, einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall zu erleiden, verdoppelte sich bei Patienten, die das Medikament einnahmen, allerdings erst nach einer längeren Beobachtungszeit.
Merck nahm Vioxx vom Markt. Fraglich ist bis heute, wie viele durch Vioxx verursachte Todesfälle verhindert hätten werden können, wenn der Pharmakonzern das Medikament gleich vom Markt genommen hätte, als die ersten Herzinfarkte und Schlaganfälle auftraten.
In den darauffolgenden Jahren stimmte der Pharmakonzern einem Vergleich zu, bei dem er etwa 900 Millionen Dollar Schmerzensgeld an die Opfer zahlte. Klingt dramatisch, war es aber für Merck eigentlich nicht. Denn Merck hatte zuvor 2,5 Milliarden Dollar Umsatz mit Vioxx erziehlt, und zwar jährlich. Weshalb die scheinbar horrende Zahlung in der Endabrechnung den Gewinn von Merck mit Vioxx bloß ein wenig schmälerte.
Was die Pharmakonzerne aus der Causa lernen konnten, war: Lege einen Rainy Day Fund an, also eine Rücklage für derartige Vorfälle, und kalkuliere dessen Dotierung in den Medikamentenpreis ein. Um den Imageschaden kümmern sich die PR-Strategen, die Anwälte finden neue Tricks und Techniken zur Umgehung der schärferen Kontrollen und Vorgaben bei der Zulassung, die der politische Wille im Gefolge solcher Skandale hervorbringt, und schon ist ein Skandal mit ein paar tausend Toten »geschluckt«.
Im Kern ist also das System nach dem Vioxx- Skandal und den anderen Skandalen das gleiche geblieben, nur die Pharmakonzerne haben sich weiterentwickelt. Sie agieren schlauer als früher. Sie brauchen sich nicht in die plumpe Illegalität zu wagen. Sie haben es auch nicht nötig, sich mit kriminellen Praktiken Vorteile zu Lasten der Patienten zu verschaffen, das können sie auch im Rahmen der Gesetze und der existierenden Grauzonen tun. Der wahre Skandal spielt sich jetzt im Rahmen der geltenden Gesetze vor unser aller Augen ab, bloß sieht ihn keiner, weil der Wahnsinn zur Normalität wurde und ihn viele Meinungsbildner nicht sehen wollen. Aber die sogenannten Meinungsbildner – oder key opinion leaders – werden in der Industrie in den allermeisten Fällen von der Industrie »gemacht« und meines Erachtens nur zu einem Zweck, nämlich um andere Ärzte zu beeinflussen. Dies ist einer der effektivsten Mechanismen, der Hauptmultiplikator, der die Verkaufszahlen der beworbenen und von Meinungsbildnern empfohlenen Produkte vervielfachen kann.
Ich schreibe dieses Buch in dem Bewusstsein, dass es vielen Menschen, die in der Pharmaindustrie oder im Gesundheitswesen tätig sind, und vielleicht auch Patienten, die lieber blind vertrauen als hinterfragen, missfallen wird. Ich habe mich dazu entschlossen, weil wir als Gesellschaft aufwachen müssen. Denn die Pharmakonzerne sind gut vorbereit im 21. Jahrhundert angekommen, wir hingegen hinken hinterher.
Die Pharmakonzerne verfolgen klare Ziele, die sich aus Quartalsplänen und Profitmaximierung zusammensetzen. Wer will es ihnen auch verübeln? Schließlich müssen sie sich in einer globalen Marktwirtschaft behaupten.
Doch es fehlt das Korrektiv. Denn diesen Konzernen stehen inhaltlich überforderte politische Entscheidungsträger, planlose Wissenschaftler, überarbeitete Ärzte und eine ahnungslose Zivilgesellschaft gegenüber, die zum Teil schon selbst die globale Marktwirtschaft als übergeordnetes Prinzip akzeptiert haben.
Medikamente sind aber eben kein Produkt wie jedes andere. Irgendwann sind wir alle Patienten und dann haben wir ein fundamentales Recht auf eine Behandlung, die ausschließlich unseren Interessen, unserer Gesundheit dient.
Außerdem schreibe ich dieses Buch auch deshalb, weil es für mich als Arzt unerträglich ist, zusehen zu müssen, wie sich gut ausgebildete Mediziner gutgläubig »kaufen« lassen und bereitwillig die von den Pharmakonzernen gebauten goldenen Brücken beschreiten, mit deren Hilfe sie sich nicht als korrupt fühlen müssen. Und ja, ich spreche von »sich kaufen lassen« und »sich nachher selbst belügen«.
Nicht zuletzt schreibe ich dieses Buch, weil die beschränkten Ressourcen des Gesundheitssystems ökonomisch sinnvoll eingesetzt werden müssen. Sie sind kostbar und begrenzt. Und wir dürfen nicht vergessen, dass funktionierende Versicherungssysteme in unseren westlichen Gesellschaften die Eckpfeiler unseres sozialen Friedens sind. Unsere Versicherungssysteme dürfen nicht systematisch und hemmungslos ausgebeutet werden, wie dies zum Beispiel durch unverschämt hohe Preise für Medikamente, deren Wirkung vielleicht auch noch oft fragwürdig ist, tagtäglich geschieht. Wir benötigen ein Korrektiv: durch den Gesetzgeber, durch die Medizin, die Wissenschaft und durch uns alle. Ein solches Korrektiv kann nur durch das Schaffen von Bewusstsein, durch Auflärung und einen Blick hinter die Kulissen entstehen.
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