1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Es gibt einen breiten Konsens, dass Unterrichtsfeedback von Schülerinnen und Schülern nützlich und wichtig ist und dass die «Kundinnen und Kunden» der Lehrenden ernst genommen werden und als wichtige Informanten eingeschätzt und geschätzt werden: «Für eine Befragung von Schülern spricht u. a. ihre Langzeiterfahrung mit Schule, Unterricht und Lehrkräften. Schüler kennen Lehrkräfte sowohl im Vergleich mehrerer Fächer als auch im Vergleich über die Schulzeit hinweg. Ihre Aussagen können sich auf Wahrnehmungen über einen längeren Zeitraum und auf die Erfahrungen in unterschiedlichen Situationen stützen» (Ditton 2002, S. 263). Bessoth und Weibel sprechen in ihrem Buch «Unterrichtsqualität an Schweizer Schulen» Klartext: «Die Reputation von Befragungen von Schülerinnen und Schülern ist nach allen vorliegenden Forschungen höher als die Zensurengebung durch die Lehrenden. Das heißt, den Einschätzungen der ‹Klienten› kann mehr Reliabilität (Zuverlässigkeit) und Validität (Gültigkeit) zugebilligt werden als der Notengebung, die ja individuell erfolgt. […] Obwohl viele Lehrende glauben machen wollen, dass ihre Schülerinnen und Schüler, und insbesondere die ganz jungen, keine konsistenten Urteile über Lehrpersonen und deren Unterricht aufgrund ihrer fehlenden Reife, ihrer mangelnden Erfahrung und Sprunghaftigkeit fällen können, zeigen die bis in die 1920er-Jahre zurückreichenden Forschungen genau das Gegenteil: Die Urteile der Lernenden waren von Jahr zu Jahr stabiler» (Bessoth & WeibeI 2000, S. 74).
Selbstverständlich hat Schülerfeedback auch seine Grenzen: Schülerinnen und Schüler können die fachliche und didaktische Kompetenz kaum beurteilen. Es ist zudem oft unklar, welchen Maßstab die Schülerinnen und Schüler anwenden (z. B. den Vergleich mit dem Unterricht anderer Lehrpersonen). Möglich ist auch, dass die Rückmeldungen durch negative oder positive Aufwertungen der Lehrperson verzerrt sind (vgl. Helmke 2009, S. 282 f.).
Reflektieren
Für Weiterentwicklungen im Sinne einer Professionalisierung im Lehrberuf ist es unabdingbar, dass die Lehrerinnen und Lehrer ihr eigenes Handeln immer wieder kritisch hinterfragen und in Verbindung mit neuen Erkenntnissen differenziert reflektieren.
Wir sehen nicht, was wir nicht sehen, und was wir nicht sehen, existiert nicht
Diese Erkenntnis in der Randspalte, die Humberto Maturana und Francisco Varela gegen Ende ihres Buches «Der Baum der Erkenntnis» formuliert haben, hat für den Lehrberuf eine besondere Bedeutung. Auch die weiterführende Erkenntnis von Maturana und Varela, «Tradition ist nicht nur eine Weise zu sehen und zu handeln, sondern auch eine Weise zu verbergen», ist für eine Auseinandersetzung mit pädagogischem Handeln höchst bedeutsam: Tradition steht für die gewohnten subjektiven Alltagstheorien, die einerseits pädagogisches Sehen ermöglichen und andererseits verunmöglichen. «Eine Tradition basiert auf all jenen Verhaltensweisen, die in der Geschichte eines sozialen Systems selbstverständlich, regelmäßig und annehmbar geworden sind. Und da die Erzeugung dieser Verhaltensweisen keiner Reflexion bedarf, fallen sie uns erst auf, wenn sie versagen. An diesem Punkt setzt dann die Reflexion ein» (Maturana & Varela 1987, S. 260 f.).
«reflection-in-action» und «reflection-on-action»
In seinen beiden Büchern «The Reflective Practitioner» (1983) und «Educating the Reflective Practitioner» (1987) unterscheidet Donald A. Schön zwei Formen der Reflexion: «reflection-on-action» und «reflection-in-action». Reflection-on-action meint die Fähigkeit, das Handeln im Nachhinein zu reflektieren; reflection-in-action die Fähigkeit, unvorhergesehene Situationen während des Handelns neu zu interpretieren, das heißt, ein «reframing» (Neurahmen) einer Situation während der Aktion zu leisten (siehe Texte 3zu diesem Kapitel).
Reflexionskompetenz ist ohne Zweifel eine zentrale Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern. Die Kultivierung der Reflexionskompetenz ist im Lehrberuf von entscheidender Bedeutung. Reflexionskompetenz ist hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung nötig, um sich selbst distanziert und kritisch beobachten zu können, eigene Kräfte und Kompetenzen realistisch einzuschätzen und konstruktive Formen der Bewältigung von Belastungen zu finden. In Bezug auf die berufliche Tätigkeit ermöglicht Reflexionskompetenz Verbindungsleistungen zwischen theoretischem Wissen und praktischer Erfahrung: Durch Reflexion kann Theoriewissen eine handlungsbestimmende Kraft entfalten (vgl. Gudjons 2007, S. 9 f.).
Hoher Stellenwert biografischer Reflexionen
Wie im ersten Kapitel hervorgehoben, haben biografische Reflexionen für angehende Lehrerinnen und Lehrer einen sehr hohen Stellenwert. Studien zu beruflichen und berufsbiografischen Entwicklungen zeigen, wie stark das Lehrerhandeln in biografisch aufgeschichteten Deutungsbeständen wurzelt. Um Lehrpersonen nicht einer unwägbaren Praxis auszuliefern, braucht es Reflexivität als Bewusstheit des eigenen Tuns. Reflexionskompetenz im Allgemeinen (und biografische Reflexion im Speziellen) bilden eine Schlüsselkompetenz von Professionalität (vgl. Combe & Kolbe 2004, S. 835). Dass Unterricht durch ein außerordentlich hohes Maß an Komplexität charakterisiert ist, ist eine unbestreitbare Tatsache. Stichworte wie Multidimensionalität, Gleichzeitigkeit, Unmittelbarkeit oder Unvorhersehbarkeit weisen auf diese Komplexität hin. Lehrerhandeln ist immer durch ein beachtliches Maß an Ungewissheit, Undurchschaubarkeit und Unsteuerbarkeit geprägt. Unaufhebbare Antinomien gehören zum Berufsalltag: Als Lehrpersonen muss man oft das eine tun, ohne das andere zu lassen. So ist beispielsweise im pädagogischen Handeln Nähe ebenso wichtig wie Distanz. Und es können unerklärliche Situationen und Reaktionen entstehen, wenn Lehrpersonen Nähe erzwingen, wo Heranwachsende Distanz wünschen. Um solche und ähnliche komplexe Prozesse besser verstehen zu können, braucht es Reflexionskompetenz.
Über pädagogisches Handeln klug nachdenken, um klug handeln zu können
Reflexion meint die Rekonstruktion von Erfahrung. Reflexion ist eine Form von Lernen aus Erfahrung. Sie bedeutet konstruktive Verarbeitung von Erfahrungen. Vorbereitung auf Reflexion ist Vorbereitung auf optimale Auswertung der konkreten Erfahrungen, die man als Lehrerin oder Lehrer macht. Die Professionalität der pädagogischen Berufe zeigt sich nicht an der Form ihres Wissens, sondern im Umgang mit ihrem Wissen – und dieser Umgang ist reflexiv. Walter Herzog, emeritierter Professor für Pädagogische Psychologie in Bern, sieht die Aufgabe einer posttechnokratischen Lehrerbildung nicht im Einschleifen von Fertigkeiten und Gewohnheiten oder in der Indoktrination stereotyper Verhaltensweisen, sondern in der Hilfe, über pädagogisches Handeln klug nachzudenken und klug handeln zu können (Herzog 1995; vgl. hierzu auch die Materialien zu diesem Kapitel unter http://mehr.hep-verlag.ch/didaktisch-handeln-und-denken und den Anhang).
Literatur
Bandura, A. (1976). Lernen am Modell: Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Stuttgart: Klett.
Bessoth, R. & Weibel, W. (2000). Unterrichtsqualität an Schweizer Schulen. Zug: Klett und Balmer.
Combe, A. & Kolbe, F.-U. (2004). Lehrerprofessionalität: Wissen, Können, Handeln. In W. Helsper & J. Böhme (Hrsg.), Handbuch der Schulforschung (S. 833–851). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Felten, R. von (2011). Lehrerinnen und Lehrer zwischen Routine und Reflexion. In H. Berner & R. lsler (Hrsg.), Lehrer-Identität – Lehrer-Rolle – Lehrer-Handeln. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Ditton, H. (2002). Lehrkräfte und Unterricht aus Schülersicht. Ergebnisse einer Untersuchung im Fach Mathematik. Zeitschrift für Pädagogik, 48 (2), S. 262–286.
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