Regelhaftigkeit: Metaphern wie ‹Drehbuch› oder ‹Skript› lassen einen zunächst an Spielvorlagen denken, denen man folgen kann. In dem Masse, wie sie sich verfestigen und verdinglichen, nehmen sie jedoch zunehmend einen normativen Charakter an. Sie transformieren sich in Regeln, die man befolgen muss. Sie mutieren zu Verpflichtungen. Die ‹Mitspieler› sind gehalten, diese zu respektieren. Sie tun dies in der Regel auch, und je länger sie sich regelkonform verhalten, desto weniger fragen sie noch nach deren Sinn.
Selbstverständlichkeit: Institutionalisierte Interaktionsmuster werden für die Beteiligten also zunehmend zu Selbstverständlichkeiten, über die man nicht nachzudenken braucht und derer man sich oft gar nicht mehr bewusst ist. Man braucht beispielsweise nicht mehr darüber nachzudenken, ob man seine Kinder ab dem sechsten beziehungsweise siebten Lebensjahr zur Schule schicken soll. Man tut es einfach.
Universalität: Im alltagssprachlichen Gebrauch verbindet man den Begriff der Institution gerne mit relativ grossen und komplexen gesellschaftlichen Einrichtungen. Man denkt an Dinge wie die AHV, die Armee, die Landeskirche oder das Gesundheitswesen. Wie gezeigt, lässt er sich jedoch auch im Zusammenhang kleiner Gruppen, etwa einer Familie oder Wohngemeinschaft, verwenden. Und wie im vorhergehenden Abschnitt dargestellt, lassen sich auch auf Weltebene, in der Interaktion von Nationalstaaten, Prozesse beobachten, die als Institutionalisierungen aufzufassen sind.
Bis in Bezug auf Schule und Bildung von Institutionen gesprochen wurde, bedurfte es allerdings einer Entwicklung, die sich über Jahrhunderte hinzog. Sie wurde im zweiten Hauptabschnitt in groben Zügen zu skizziert. Dabei sollte zum einen deutlich geworden sein, dass sich die historisch-konkrete Bildungsinstitution in ihren Strukturen und Prozessen nur dann angemessen beschreiben und verstehen lässt, wenn man sie in ihrer Beziehung zum weiteren gesellschaftlichen Umfeld sieht und die Wechselwirkungen zwischen dem Schulwesen und allen anderen sozialen Institutionen, «toutes les autres institutions sociales» in Durkheims Worten, mitberücksichtigt. 25Bei aller Kontinuität bestimmter Formen gesellschaftlich organisierter Bildung, wie zum Beispiel der räumlichen und zeitlichen Anordnung der Wissensvermittlung, kann institutionalisierte Bildung in einer liberalen Gesellschaftsordnung nicht gleich angeordnet sein wie in der ständischen Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts. Die oft zitierte «Selektionsfunktion» der Schule etwa ergibt nur in einer Gesellschaft einen Sinn, in der die gesellschaftliche Stellung der Menschen nicht bereits mehr oder weniger unverrückbar festgelegt ist.
Ein zweiter zentraler Befund, der sich aus dem historischen Rückblick ergibt, betrifft die Frage, welche Elemente es denn eigentlich sind, die komplexen gesellschaftlichen Gebilden wie eben etwa dem Schulwesen über längere Zeiträume hinweg eine gewisse Stabilität verleihen. In der Darstellung von Berger und Luckmann beruht sie darauf, dass ein ursprünglich auf unmittelbarer Erfahrung beruhendes Wissen darüber, wie ‹man› bestimmte Dinge tut, sich auf einer zweiten, sprachlichen Ebene gleichsam verdoppelt und damit an Menschen vermittelt werden kann, die über den unmittelbaren Erfahrungsbezug nicht oder noch nicht verfügen. In dieser Form kann es auch an eine nächste Generation weitergegeben werden, sofern die Gesellschaft über eine entsprechende Einrichtung, beispielsweise ein Schulwesen, verfügt. In dieser Form hat Wissen für die Nachgeborenen die Autorität von etwas nicht Hinterfragbarem und kann dadurch gewährleisten, dass einmal typisierte Handlungsverläufe sich über die Zeit hinweg nur langsam verändern. Demgegenüber beruht die Stabilität der Bildungsinstitution in der Makroperspektive, aus der Durkheim argumentiert, auf ihrer engen Verschränkung mit «allen anderen Institutionen der Gesellschaft». Erst wenn das dichte Geflecht von Beziehungen und wechselseitigen Abhängigkeiten ins Wanken kommt, so kann man interpretieren, kommt es zu einem Wandel auch des Bildungswesens.
Eine dritte Erklärung hat der amerikanische Soziologe Richard Scott vorgeschlagen. Auf der Grundlage einer breit angelegten Sichtung der Forschungsliteratur hat er drei Komponenten herausgearbeitet, die in theoretischen und empirischen Studien in unterschiedlicher Gewichtung immer wieder thematisiert werden, wenn es um Institution, Institutionalisierung und institutionellen Wandel geht. Er bezeichnet sie als «Pfeiler» (pillars), welche Institutionen tragen beziehungsweise stützen ( Abbildung 7, Seite 46).
Abbildung 7: Stützen sozialer Institutionen
Quelle: nach Scott 2001
•Der regulative pillar verweist auf formelle, politisch abgesicherte und juristisch kodifizierte Regelungen wie Gesetze und Verordnungen, im Falle von Organisationen auch etwa Statuten oder Betriebsordnungen. Sie formulieren explizite Verhaltensvorschriften, deren Verletzung mit entsprechenden, beispielsweise strafrechtlich festgelegten, Sanktionen geahndet werden kann.
•Der normative pillar hat ebenfalls mit den Erwartungen zu tun, die sich auf das Verhalten der Menschen im gesellschaftlichen Feld beziehen. Allerdings ist es hier nun nicht ein formalisierter Codex expliziter Regeln, sondern eine Art Übereinkunft der Gesellschaftsmitglieder bezüglich eines «angemessenen» Handelns, die den Individuen im Sinne von Verhaltensregeln gegenübertritt. Bei Nichtbeachtung drohen keine formellen Verfahren, die zu Strafen führen können, wohl aber Reaktionen, die von milden Formen wie Zeichen der Missbilligung über Zurechtweisungen bis hin zu gesellschaftlicher Ächtung und Ausschluss führen können.
•Der cultural-cognitive pillar schliesslich wirkt nicht nur nicht durch formalisierte Prozesse, sondern oft nicht einmal auf einer bewussten Ebene. Hier geht es um kulturell angelegte und von den Einzelnen internalisierte Überzeugungen und Orientierungen, die manches, was sich im sozialen Raum abspielt, schlicht als selbstverständlich, nicht anders denkbar oder, wie es im angelsächsischen Raum formuliert wird, als taken for granted erscheinen lässt.
Selbstverständlich stehen diese drei Pfeiler nicht völlig selbstständig und unverbunden nebeneinander. In der sozialen Wirklichkeit gehen die drei Aspekte ineinander über, verbinden sie sich gar. Es ist erst die analytische Perspektive von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die eine der Komponenten besonders ins Zentrum rückt. Das Modell ist indessen durchaus hilfreich, wenn man die Institutionalisierung gesellschaftlicher Verhaltensweisen im historischen Verlauf beschreiben will. Der Verhaltenstyp ‹Schulbesuch› zum Beispiel wird, wie wir gesehen haben, im 17. Jahrhundert zunächst über Gesetze und Erlasse durchzusetzen gesucht, die in weiten Kreisen der Bevölkerung bis ins 19. Jahrhundert hinein normativ oder gar kulturell-kognitiv nur begrenzt abgestützt waren. Erst im 20. Jahrhundert wird der Schulbesuch zur nicht mehr weiter zu hinterfragenden Selbstverständlichkeit.
Man kann sich auch im zeitlichen Querschnitt überlegen, inwieweit die drei Pfeiler eine Institution stützen. In Bezug auf die globale Bildungsinstitution beispielsweise lässt sich im Sinne der Institutionalisierungshypothese argumentieren, dass sie insbesondere auf einem weltweiten kulturell-kognitiven Konsens bezüglich der positiven Wirkungen von Bildung beruhen. Wie sich gezeigt hat, wird dieser normativ etwa dadurch abgestützt, dass sich internationale Organisationen darum bemühen, entsprechende Verhaltenserwartungen an die Nationalstaaten salonfähig zu machen. Und mit dem Dakar-Abkommen ist neu auch etwas hinzugekommen, das bereits ein Stück weit regulativen Charakter hat. Es gibt zwar keine Weltregierung, die das Wohlverhalten der Länder erzwingen könnte, wohl aber ein Vertragswerk, das auch juristisch interpretiert werden kann. Es gibt zwar keinen kodifizierten Katalog von Sanktionen, aber doch immerhin Mechanismen wie zum Beispiel den EFA-Monitoringprozess, der die Möglichkeit von Sanktionen zumindest symbolisch anzudeuten vermag.
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