Lebenssituation
Am leichtesten fällt eine Berufsausbildung dann, wenn jemand nur für sich selbst sorgen muss, vielleicht noch – oder wieder – im Elternhaus wohnt und über ausreichend Mittel verfügt, um seinen Lebensunterhalt und die Ausbildungskosten zu bestreiten. Erwachsene müssen jedoch neben der Ausbildung häufig eine Familie ernähren oder Familienangehörige betreuen. Die Nähe zur Familie (Eltern, aber auch Ehepartner) kann indessen auch eine Quelle finanzieller Unterstützung sein.
Entscheidend ist weiter der Wohnort: Es kann den Alltag stark belasten, wenn die besuchten Bildungseinrichtungen – Lehrbetrieb, Berufsfachschule usw. – schwer zu erreichen sind. Kommt noch eine physische oder psychische Schwächung hinzu (z. B. als Folge einer früheren Krankheit oder traumatischer Erlebnisse), kann die Belastung leicht die Ressourcen erwachsener Lernender übersteigen.
Motive
Erwachsene, die einen Beruf erlernen, erhoffen sich davon eine Verbesserung ihrer Situation oder mindestens deren Stabilisierung. Im Einzelnen, so zeigen unsere Befragungen, können mit der Aufnahme einer Ausbildung sehr verschiedene Motive verbunden sein ( → Tabelle 2-1).
Tabelle 2-1Mögliche Motive für eine Ausbildung aus Sicht von Erwachsenen
Äussere Lebensumstände |
Krankheit, Unfall, eine Allergie oder Veränderungen am Arbeitsmarkt zwingen zu einem Berufswechsel. |
Sicherheit |
Vielen erwachsenen Lernenden ist bewusst, dass ein fehlender Berufsabschluss das Risiko erhöht, immer wieder stellenlos und/oder von Sozialhilfe abhängig zu werden. |
Verdienst |
Vom Erwerb eines anerkannten Abschlusses wird ein deutlich höheres Einkommen erwartet. |
Ansehen |
Man will sich selbst oder der Umwelt beweisen, dass man in der Lage ist, einen Berufsabschluss zu erwerben. |
Berufliches Fortkommen |
Ein eidgenössisches Fähigkeitszeugnis ist oft eine Voraussetzung, wenn man sich um ein Kadertätigkeit bemüht oder in eine Ausbildung auf Tertiärstufe einsteigen will. |
Erfüllende, sinnvolle Tätigkeit |
Es wird nach einer Tätigkeit gesucht, die mehr innere Befriedigung verspricht. |
Typisierte Gruppen von Erwachsenen
Unter Berücksichtigung der beschriebenen Faktoren, der Anforderungen an die Ausbildung und der heutigen Praxis schlagen wir die folgende Gruppierung der Adressaten von beruflicher Bildung für Erwachsene vor:
• Personen mit wenig Berufserfahrung: Personen, die noch nie oder seit längerer Zeit nicht mehr regelmässig gearbeitet haben und die von der Sozialhilfe aufgefordert (und unterstützt) werden, im ersten Arbeitsmarkt Fuss zu fassen, ferner immigrierte Personen ohne Abschluss und ohne Arbeitserfahrung in einer mit der Schweiz vergleichbaren Arbeitswelt.
• Personen ohne einschlägige Fachkompetenzen: Personen, die aus langjähriger Berufstätigkeit zwar über personale und soziale, nicht jedoch über spezifische Fachkompetenzen verfügen.
• Personen mit ausländischen Abschlüssen: Immigrierte Personen mit guter Ausbildung in ihrer Heimat, die keine ihrer Ausbildung entsprechende Arbeit finden, weil ihre Ausbildung schweizerischen Verhältnissen nicht entspricht und/oder in der Schweiz nicht anerkannt ist.
• Personen mit einschlägigen Fachkompetenzen: Personen mit langjähriger Erfahrung in einem Berufsfeld ohne Abschluss (früher «Angelernte» genannt), die sich in ihrer gegenwärtigen Tätigkeit weiterentwickeln und dazu einen Abschluss erwerben wollen.
• Berufswechslerinnen und Berufswechsler (Quereinsteiger): Personen, in der Regel mit einem Erstabschluss der beruflichen Grundbildung und in fester Anstellung, die einen neuen Beruf erlernen wollen.
• Wiedereinsteigerinnen und Wiedereinsteiger: Personen, die nach langem Unterbruch, insbesondere nach einer Familienphase, wieder ins Arbeitsleben einsteigen wollen, mehrheitlich im gleichen Berufsfeld.
• Personen in Umschulung: Personen, die sich aus gesundheitlichen Gründen oder infolge Umschichtungen im Arbeitsmarkt gezwungen sind, einen neuen Beruf zu erlernen, und dabei in der Regel mit Leistungen aus einer Sozialversicherung unterstützt werden.
2.3 Erwachsenengerechte Didaktik
Eine Ausbildung in der Schule, in einem Betrieb oder an einem anderen Lernort erzeugt nur dann Wirkung, wenn sie sich inhaltlich und methodisch an der Zielgruppe orientiert.
Oft wird argumentiert, dass sich Erwachsene als Zielgruppe der Berufsbildung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen (18 bis 25 Jahre) nicht derart unterscheiden, dass es eine spezielle Didaktik für Erwachsene brauchen würde. Wir schliessen uns dieser Argumentation im Grundsatz an.
Dennoch soll Unterricht (wie alle Ausbildungsprozesse), der sich an Erwachsene richtet, einige Punkte besonders beachten:
•Erwachsene über 25 Jahre verfügen über mehr Lebenserfahrung als Jugendliche und junge Erwachsene. Vor diesem Hintergrund können sie besser beurteilen, was für sie wichtig ist und was nicht. Dass die Lerninhalte für Arbeitsalltag und Privatleben relevant sind, ist bei Erwachsenen noch wichtiger als sonst schon in der Berufsbildung (Dinkelaker & Kraus, 2012, S. 4).
•Das Lernen «auf Vorrat», das Jugendliche in der Tendenz eher tolerieren, ist für viele Erwachsene in der beruflichen Grundbildung sehr schwierig und senkt die Motivation.
•Schliesslich sind viele Erwachsene an möglichst zügigem Lernen interessiert und auch darauf angewiesen, weil ihre Mehrfachbelastung eine effiziente Einteilung der zeitlichen Ressourcen erfordert.
Betrieben fällt die Ausrichtung an den individuellen Voraussetzungen erwachsener Lernender vergleichsweise leichter als Schulen, denn bei der Arbeit sind sie meist mit Erwachsenen zusammen. Gleichzeitig verlangt die Ausbildung von Erwachsenen von den Berufsbildnern eine andere Einstellung, vor allem wenn die Lernenden gleich alt oder älter sind als die Lehrenden. Zudem besteht die Gefahr, dass erwachsene Lernende zu oft in Bereichen eingesetzt werden, in denen sie bereits über Fachkompetenzen verfügen, und die Ausbildung in jenen Bereichen zu kurz kommt, die ihnen weniger vertraut sind.
2.4 Formelle Anerkennung erworbener Kompetenzen
Anspruch jedes Bildungsangebotes muss es sein, bereits erworbene Kompetenzen angemessen zu berücksichtigen. Das gilt in besonderem Masse in der Berufsbildung für Erwachsene. Sie sollten nicht Angebote besuchen müssen, in denen es um Kompetenzen geht, über die sie bereits verfügen. Das ist demotivierend und unwirtschaftlich. Um dies zu vermeiden, müssen vorhandene Kompetenzen formell anerkannt werden.
Die Begriffe «Anerkennung von Kompetenzen», «Validierung» und «Validierungsverfahren» werden unterschiedlich verwendet. In der Schweiz ist in diesem Zusammenhang meist vom «Validierungsverfahren» die Rede. Wir gehen darauf ausführlich in Abschnitt 5.2ein. Aber nicht nur beim «Validierungsverfahren» werden Kompetenzen anerkannt, sondern auch in verschiedenen anderen Verfahren – deshalb dieser etwas längere Abschnitt zur formellen Anerkennung erworbener Kompetenzen.
Dabei geht es um Verfahren, bei denen eine dazu ermächtigte Behörde oder Stelle bestätigt, dass eine Person über bestimmte Kompetenzen verfügt, die üblicherweise im Rahmen eines bestimmten formalen oder nichtformalen Bildungsgangs erworben werden und die in den zugrunde liegenden Lehrplandokumenten festgelegt sind. Es spielt dabei keine Rolle, wie diese Kompetenzen erworben worden sind, ob formal, nichtformal oder informell. So kann auch beruflicher Erfahrung ein Wert verliehen werden (Valida, 2003).
Читать дальше