Kapitel 2
Womit Jugendliche beschäftigt sind
«Man kann einen Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu entdecken.»
Galileo Galilei
Jugendliche um 16 sind körperlich zwar erwachsen, aber nicht geistig-seelisch. Diese Entwicklung stellt die Jugendlichen immer noch vor die gleichen Aufgaben wie früher, aber «Jugendliche müssen sich heute mit einer Vielfalt von Möglichkeiten auseinandersetzen, die es vor wenigen Generationen noch gar nicht gab. Die persönlichen und sozialen Entwicklungsaufgaben, die Heranwachsende meistern müssen, sind komplexer geworden. Es fehlen eigentliche Rollenvorbilder oder Werte, die den Adoleszenten in dieser wichtigen Lebensphase eine Orientierungshilfe sein könnten.» (10) Sie sind damit beschäftigt, die eigene Entwicklung in Richtung Identität und Persönlichkeit voranzutreiben und sich in der Gemeinschaft mit anderen zurechtzufinden. Die Entwicklungspsychologie spricht von Entwicklungsaufgaben, die die Jugendlichen zu leisten haben. Der erste Abschnitt des Kapitels beschäftigt sich mit diesen Entwicklungsaufgaben, die im Wesentlichen die Herausbildung einer Identität und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper beinhalten und ausserdem mit Abgrenzung und Kooperation zu tun haben. Im zweiten Abschnitt geht es um das jugendliche Lernen und im dritten schliesslich um die Kooperation der Jugendlichen mit der Schule/Ausbildung.
Entwicklungsaufgaben
Mit dem Eintritt in die (Vor-)Pubertät verlieren Kinder ihre Natürlichkeit und Unbeschwertheit. Sie werden sich ihrer selbst bewusst und stellen alles infrage: den eigenen Körper, die eigene Intelligenz, die eigenen Gefühle, die eigenen Werte, die Vorlieben und Abneigungen. Bis dahin war das Kind das, was die Erwachsenen in ihm gesehen und von ihm erwartet haben. Nun wehrt es sich zunehmend gegen diese Definition von aussen.
Um ein neues, eigenes Selbst auszubilden, braucht es einen langen Prozess von Auflehnung, Reibung, Suchen und Finden. Auf dieser Suche werden die engsten Bezugspersonen harten Belastungen und Tests ausgesetzt: «Leben diese wirklich die Werte, die sie immer predigen? Sind sie echt? Lieben sie mich, weil ich brav bin, oder lieben sie mich auch, wenn ich so bin, wie ich bin? Wie weit lassen sie mich gehen? Wo ziehen sie Grenzen? Sind sie gerecht?» Ausbildende sind von diesen Tests nicht ausgenommen. In der stetigen Auseinandersetzung bilden die Jugendlichen ihre eigene Identität aus, entwickeln Selbstvertrauen und lernen, sich zu behaupten. Die Jugendlichen brauchen es dringend, dass man sich mit ihnen auseinandersetzt und ihre sich formende Persönlichkeit ernst nimmt.
Die folgenden vier Entwicklungsaufgaben stehen bei Jugendlichen, die die Vorpubertät hinter sich haben und mindestens 16 Jahre alt sind, im Vordergrund:
•Die Bildung einer eigenen Identität
•Den eigenen Körper bewohnen lernen
•Einen individuellen Umgang mit der Sexualität entwickeln
•Selbst- und Sozialkompetenzen weiterentwickeln
Die Bildung einer eigenen Identität
Identität bedeutet: Ich habe ein stimmiges und zusammenhängendes Bild von mir selbst. Ich kenne meine Stärken und Schwächen. Jugendliche stellen sich folgende Fragen oder Varianten davon oft: «Wer bin ich?» – «Was werde ich sein?» – «Wie möchte ich sein?» – «Warum bin ich so?» – «Was wäre, wenn es mich nicht gäbe?» – «Für wen hält man mich?»
Zu diesen Fragen gehören natürlich die Selbstzweifel und auch die Frage, wie widersprüchlich jemand überhaupt sein kann und darf. Gefundene Bausteine einer eigenen Identität werden gerne zur Abgrenzung nach aussen demonstrativ gezeigt – in Kleidung, Frisur, Verhalten und Einstellungen. Es wird immer wieder erprobt, wie sicher diese Abgrenzung zwischen innen und aussen gelingt, welches Selbst man zur Schau tragen will und wie man auf die andern wirkt. In dieser Phase der Unklarheit über die eigene Person, ihre Stärken und Ausprägungen sind Jugendliche sehr empfindlich und verletzbar. Sie ziehen sich zurück und reagieren harsch auf Urteile von Personen, zu denen sie kein Vertrauen haben. Bei männlichen Jugendlichen kann dies zu einem aggressiven Gegenangriff führen.
Identität wird durch Interaktion, Selbstbilder und Fremdbilder, also durch die Spiegelung in anderen geformt. Indem Jugendliche sich mit Gleichaltrigen vergleichen, Gespräche mit Vertrauten pflegen und ihre Wirkung auf andere testen, bauen sie ihr Selbstbild auf. Dadurch reifen die eigene Wahrnehmung und das Bewusstsein für die eigene Ausstrahlung, aber auch der Wunsch, das eigene Selbst nach aussen zusammenhängend zu vertreten und zu verteidigen. Wenn Jugendliche motzen: «Ich bin gar nicht so, wie du denkst», dann steckt dahinter eine grosse Arbeit an sich selbst, nämlich das Entdecken der eigenen Identität und deren Verteidigung.
Da Identität sich durch Interaktion herausbildet und das Einnehmen von unterschiedlichen Rollen in der Gesellschaft und in Gruppen ein zentraler Lernfaktor ist, soll hier kurz auch auf die beliebten elektronischen Rollenspiele eingegangen werden. Sehr viele Jugendliche spielen sie; oft länger, als ihnen gut tut und auf Kosten von Schlaf und Bewegung. In einer aktuellen Bachelor-Arbeit kommt Bernadette Schaffner zum Schluss, «dass exzessives Spielen sich nicht nur psychisch äussert, sondern sich auch biologisch auf das Gehirn und dessen Struktur auswirkt.» (13a) Offenbar kann exzessives Spielen (mehr als 30 Stunden pro Woche) zu ungesunden Bewältigungsstrategien wie z. B. Flucht ins Spiel führen (statt reale Alltagssituationen zu bewältigen). Andererseits können die Spielenden verschiedene Rollen ausprobieren und sich so an die eigene Identität herantasten. Die Spielgemeinschaften tragen dazu bei, dass Jugendliche ein Gefühl der Zugehörigkeit erleben und kooperieren lernen.
Lob und Kritik wirken wesentlich stärker auf die Jugendlichen, als wir gemeinhin annehmen. Auch wenn sie gut gemeint sind, kommen sie nicht immer in diesem Sinne an. Da Jugendliche sehr empfindlich sind, können sie sehr gekränkt reagieren, und sie erinnern sich oft Jahrzehnte später noch daran, wie sie verletzt worden sind. Mit Lob kann ein Jugendlicher in eine Richtung gelenkt werden, ohne dass die Lehrperson das selbst merkt. Als Lehrperson sollte man sich deshalb auch der prägenden Wirkung von Lob bewusst sein und ehrlich und angemessen loben. Falsches Lob, aber auch übersteigerte Kritik oder abwertendes Verurteilen erschweren es dem Jugendlichen massiv, zu einer realistischen Selbsteinschätzung zu kommen. Und eine realistische Selbsteinschätzung der eigenen Stärken und Schwächen macht eine starke Identität aus.
Selbstvertrauen
Mit der eigenen Identität wächst das Selbstvertrauen. Selbstvertrauen heisst: Ich kann mich auf mich selbst verlassen. Ich traue mir zu, mit vielen Situationen umgehen zu können. Selbstvertrauen wächst an Erfolgserlebnissen, an der Wertschätzung, am Überwinden von Problemen und am Bestehen von Abenteuern. Da, wo der Jugendliche Erfolg erntet, traut er sich immer mehr zu, egal, ob das eine positive Leistung ist (ein Instrument spielen, etwas zu lernen, im Online-Spiel einen Level weiterzukommen, eine erfolgreiche Strategie zu entwickeln) oder eine negative (andere einschüchtern, rauchen, grosse Risiken eingehen).
Selbstbehauptung
Selbstbehauptung heisst, sich selbst zu mögen und sich abgrenzen und durchsetzen zu können. In ihrem Bedürfnis nach Wertschätzung und Erfolg sind Jugendliche verführbar. Sie müssen lernen, Nein zu sagen zu dem, was nicht zu ihnen passt, und sich einzusetzen für das, was sie brauchen. Das erfordert Mut und Selbstvertrauen.
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