Große Teile dieses Buches wurden aus der ersten Auflage übernommen, zu der Daniela Meyer, Flavia Stocker und Werner Henggeler mit ihren kritischen Anmerkungen und ständigen Diskussionsbereitschaft Wesentliches beigetragen haben. Der dritte Teil, den Irene Lehmann-Fäh und Heidi Ehrensperger für die zweite Auflage kritisch gegengelesen haben, blieb im Wesentlichen unverändert.
Für die dritte Auflage stand mir wiederum Irene Lehmann-Fäh (schoenerschulen.ch) mit vielen Ideen zur Methodik und zur Visualisierung bei. Ich bedanke mich herzlich für diese Unterstützung.
Ergänzend dazu kamen viele Einblicke in das aktuelle Leben von Jugendlichen in der Schweiz durch meine jugendlichen Enkel. Mit ihnen kann ich lustvoll und hautnah erleben, wie Jugendliche mit dem Internet und den Social-Media umgehen.
Juni 2019Ruth Meyer
Teil 1
Erziehungsaufgaben im Unterricht
Kapitel 1
Was ist mit den Jugendlichen los?
«Sagst du es mir, so vergesse ich es. Zeigst du es mir, so merke ich es mir vielleicht. Lässt du mich teilhaben, so verstehe ich es.»
Chinesisches Sprichwort
Ausgangslage
72 964 Jugendliche zwischen 14 und 16 Jahren haben im Sommer 2018 die obligatorische Schulzeit abgeschlossen. 87 Prozent von ihnen haben eine Ausbildung auf Sekundarstufe II begonnen.
53 Prozent haben sich für eine berufliche Grundbildung (39 184) entschieden, ein Drittel besucht ein Gymnasium oder eine Fachmittelschule (24 217). Mit 87 Prozent konnte der Großteil der Jugendlichen direkt mit der Ausbildung starten. Nur 13 Prozent wichen auf eine Zwischenlösung aus: 10 Prozent nehmen ein Brückenangebot wahr (7 413) und 3 Prozent (2 150) machen ein Zwischenjahr. (1) Lehrpersonen, die in Zwischenlösung, Brückenprojekt, beruflicher Grundbildung oder Mittelschulen ausbilden, können nicht davon ausgehen, dass in ihren Klassenzimmern ausschliesslich Lernende sitzen, die hoch motiviert sind, genau wissen, was sie wollen, und zielgerichtet aus dem Bildungsangebot herausholen, was sie brauchen. Denn diese 16- bis 18-Jährigen sind zwar keine Kinder mehr, aber auch noch keine Erwachsene. Um erwachsen zu werden, müssen sie noch ihre Selbst- und Sozialkompetenzen erweitern und ihre eigene Identität entwickeln.
16-Jährigen begegnen wir als Ausbildende im Wesentlichen in drei Umfeldern: in Maturitätsschulen denjenigen, die sich auf die Universität vorbereiten; in Berufsfachschulen und innerbetrieblichen oder überbetrieblichen Ausbildungsstätten denjenigen, die eine Lehrstelle gefunden haben bzw. ein Fähigkeitszeugnis oder ein Berufsattest anstreben. In Brückenangeboten schliesslich begegnen wir denjenigen Jugendlichen, die weder eine Lehrstelle noch sonst einen Ausbildungsplatz gefunden haben.
Mit «Lernenden» und «Jugendlichen» meine ich in diesem Buch alle 16- bis 18-Jährigen, egal ob sie sich in einem Übergangsjahr, im Gymnasium oder in der beruflichen Grundbildung befinden.
Wie erleben nun Lehrpersonen diese Jugendlichen zwischen 16 und 18? In meiner eigenen Lehrtätigkeit, in der ich Lehrpersonen in der Erwachsenenbildung methodisch-didaktisch weiterbilde, fallen mir immer wieder die Berufsbildungsverantwortlichen auf. Sie haben ganz andere Fragestellungen als Lehrpersonen von Erwachsenen, sie wirken jugendlicher und sind kreativer. Und bei meinen Beobachtungen in verschiedensten Unterrichtssituationen habe ich bei Jugendlichen den lebendigsten, aber auch den mit am meisten Störungen durchsetzten Unterricht erlebt und immer wieder gestaunt, mit wie viel Humor, Schlauheit und Empathie die Lehrpersonen agieren, um die Jugendlichen, die oft schwerer zu hüten sind als ein Sack Flöhe, zu Lernleistungen zu motivieren und bei der Stange zu halten. Oft handelt es sich um Lehrpersonen, die lange Erfahrung mit Jugendlichen mitbringen, selbst erwachsene Kinder haben oder dem Jugendalter noch nahe stehen und deshalb die Bedürfnisse und Verhaltensweisen der Jugendlichen mehr oder weniger intuitiv begreifen.
Jugendliche machen in diesem Alter unterschiedliche Erfahrungen mit der Ausbildung. Im schlechteren Falle werden sie weiterhin wie Kinder behandelt, obwohl sie längst keine mehr sind. Im besseren Falle begegnet man ihnen wie «kleinen» Grossen, obwohl sie das erwachsene Lernverhalten noch nicht beherrschen. Im besten Falle finden sie warme, begeisterte und empathische Berufsbilder*innen und Lehrer*innen, die ganz genau unterscheiden zwischen Schule und Erwachsenenbildung und die Jugendlichen sorgfältig durch das Niemandsland dazwischen führen.
Jugendliche machen Schlagzeilen
Betrunkene Jugendliche randalieren
Jugendliche Intensivkiffer verlieren IQ-Punkte
Depressionen werden zunehmend auch bei Jugendlichen diagnostiziert
Suizid wegen Mobbing: Zwei Jugendliche verurteilt
Psychiatrische Notfälle nehmen bei Teenagern zu
Jugendliche verprügeln Frau
Noch nie wurden so viele Jugendliche wegen Sexualdelikten angezeigt
Teenager überfallen Jugendliche auf Schulhof
Zehntausende Jugendliche demonstrieren
Dies sind Schlagzeilen, die so oder ähnlich in den Tageszeitungen zu finden waren. Lehrpersonen von Jugendlichen könnten die Liste beliebig ergänzen:
Schlägerei in Berufsfachschule: Ein Lehrer verletzt
Tumult bei der Rückgabe der Prüfungen
Selbstmord eines Schülers
Prüfungen aus Lehrerzimmer geklaut
Schon wieder ein Schulverweis
Was ist mit den Jugendlichen los?
Jugendliche spielten früher in Gemeinschaften und Kulturen eine wichtige Rolle. Sie galten lange Zeit als unverbrauchte Kräfte, die als Arbeitskräfte die alternden Eltern und die verlorenen Soldaten ersetzten oder selbst als Kanonenfutter in den Krieg zogen. Wenn sie heutzutage in den Medien auftauchen, dann im Zusammenhang mit Gewalt, ungesetzlichem Verhalten, als Störer der öffentlichen Ordnung oder Kostenfaktor in der Berufswelt. Für die Werbung dagegen sind Jugendliche als Zielgruppe interessant. Als zahlende Konsumenten werden sie umworben und beworben in einer Art und Weise, die sich für die Jugendlichen selbst kaum durchschauen lässt. Dass Jugendliche exzessiv Computerspiele machen, über ihr Budget hinaus konsumieren und den Versuchungen der Massenmedien und Werbung erliegen, ist daher absolut kein Wunder. Gerade im Zusammenhang mit den boomenden Videospielen werden Jugendliche dazu veranlasst, mehr Geld als gewollt auszugeben und gleichzeitig ihre persönlichen Daten in ungeahntem Ausmaß freizugeben. (2)
Der Berufseinstieg gestaltet sich für viele Jugendliche schwierig, obwohl sich die Lehrstellensuche stark entspannt hat. Aktuell besteht ein deutlicher Lehrstellenüberschuss. (32b) So gibt es 2019 ein Angebot für Firmen mit dem Titel «Lernende finden mit Lehrstellenmarketing 4.0». Die Berufsfindung ist ein langer Weg, der über Umwege, Denkpausen, Abbrüche und Standortbestimmungen sehr individuell verläuft. Jugendliche zwischen 16 und 18 sind unterschiedlichsten Einflüssen ausgesetzt, mit denen sie nicht immer umzugehen wissen. Getrieben von kurzfristigen Interessen und Neigungen, finden sie sich behindert oder gefördert von der sozialen und ökonomischen Stellung ihrer Eltern und den Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt.
Gemäß Nahtstellenbarometer des SBFI/SECO besuchen Ausländerinnen und Ausländer häufiger Brückenangebote als Schweizer Jugendliche. Anbieter von Brückenangeboten berichten von einem zunehmenden Anteil von Jugendlichen, die einen erhöhten Betreuungsaufwand haben. Psychosoziale Belastungen haben deutlich zugenommen.
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