Die Verlängerung der vierjährigen Ausbildung für Primarlehrerinnen und Primarlehrer auf fünf Jahre war seit Jahren eine Professionalisierungsforderung gewesen, hatte aber bei dem sehr großen Mangel an Lehrpersonen nicht realisiert werden können. Mitte der 1970er-Jahre veränderte sich die Situation auf dem Lehrerarbeitsmarkt aber nach dem «Ölschock» und im Kontext der damit verbundenen Wirtschaftskrise sehr schnell vom Mangel zum Überfluss (Criblez 2016/im Druck). Unter anderem um den Arbeitsmarkt zu entlasten, wurde die seminaristische Ausbildung in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre in allen Kantonen verlängert. Im Kanton Bern wurde die fünfjährige Ausbildung rasch neu konzipiert (Wyss 1976) und begann 1977. Ein Jahr später reichte Grossrat Albrecht Rychen im Bernischen Grossen Rat folgende Motion ein, die auch überwiesen wurde: «Im Zusammenhang mit der Verlängerung der Primarlehrerausbildung und insbesondere auch mit der Planung der Weiterbildungsphase wird der Regierungsrat beauftragt, dem Grossen Rat bis 1982 eine Gesamtkonzeption für die Ausbildung der Lehrer aller Stufen und Schultypen vorzulegen» (Tagblatt des Grossen Rates des Kantons Bern 1978, S. 165). Damit war eine über die einfache Verlängerung der Ausbildung von Primarlehrpersonen hinausgehende Reform, das Projekt einer Gesamtkonzeption, initiiert.
2.3Frühe Reform – und Korrekturnotwendigkeiten
So schnell, wie sich dies der Motionär vorgestellt hatte, sollte die Reform aber nicht realisiert werden. Denn einerseits sollten für eine Gesamtkonzeption zunächst die notwendigen Grundlagen erarbeitet werden. Dazu fanden umfassende Abklärungen statt, unter anderem zum Tätigkeitsfeld der Lehrerinnen und Lehrer (Berufs-/Amtsauftrag), zu den notwendigen Fähigkeiten für den Lehrberuf, zur Gliederung in unter-schiedliche Lehrkategorien, zum Verhältnis von Grundausbildung, Berufseinführung und Weiterbildung, zu den notwendigen Rechtsgrundlagen oder zu Standorten und Kostenfolgen (Erziehungsdirektion 1986; Thomet 1988). Die Projektarbeiten unter der Leitung von Ulrich Thomet wurden breit abgestützt, verschiedene Anspruchsgruppen wurden in die Abklärungen einbezogen und es wurden verschiedene Tagungen, Vorstudien und Befragungen durchgeführt. Andererseits wurde das Projekt im Verlaufe der 1980er-Jahre in das umfassende Projekt der «Gesamtrevision der Bildungsgesetzgebung» integriert (Erziehungsdirektion, 1982). Der Grosse Rat beauftragte die Regierung 1985 in diesem Rahmen, spätestens Ende der Legislatur 1986/1990 Bericht und Antrag zur «Gesamtkonzeption Lehrerbildung» vorzulegen (Grossratsbeschluss Gesamtrevision 1985).
Im Legiferierungsprozess, der nun folgte und in dem die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen der neuen Lehrerinnen- und Lehrerbildung festgelegt wurden, können grob drei Phasen unterschieden werden: erstens die Verabschiedung der Grundsätze im Grossen Rat des Kantons Bern 1990, mit denen die wesentlichen Eckwerte der neuen Lehrerinnen- und Lehrerbildung definiert wurden; zweitens die Verabschiedung des Gesetzes über die Lehrerinnen- und Lehrerbildung von 1995 als Grundlage für die Angliederung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung an die Universität Bern sowie drittens das Gesetz über die Pädagogische Hochschule von 2004, mit dem eine autonome Pädagogische Hochschule geschaffen wurde.
Erste normative Festlegungen für eine neue Lehrerinnen- und Lehrerbildung im Kanton Bern erfolgten deshalb bereits 1990, als der Grosse Rat Grundsätze zur «Gesamtkonzeption der Lehrerbildung» (Grossratsbeschluss GKL 1990) beschloss – also noch bevor auf interkantonaler Ebene die Reformdiskussionen überhaupt flächendeckend initiiert worden waren. Die Eckwerte für die Neuorganisation der Volksschullehrerausbildung präsentierten sich nach diesem Grossratsbeschluss vom 14. August 1990 13wie folgt (vgl. auch Criblez & Reusser 2001; Weniger 2012, 2016/im Druck):
—Die Ausbildung aller Lehrerinnen und Lehrer sollte im tertiären Bildungsbereich erfolgen, also einen Ausbildungsabschluss auf der Sekundarstufe II voraussetzen, wobei auch Abschlüsse der Berufsbildung als Vorbildung anerkannt werden sollten.
—Die Grundausbildung sollte unterteilt werden in einen allgemeinen, stufen- und typenübergreifenden sowie einen stufenbezogenen Teil. Damit sollte die Einheit der Lehrerinnen- und Lehrerbildung betont werden.
—Erstmalig in der deutschsprachigen Schweiz war eine gemeinsame Ausbildung für Lehrkräfte des Kindergartens und der unteren Klassen der Primarschule vorgesehen.
—Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer für die Sekundarstufe I sollte sich nicht mehr auf unterschiedliche Schultypen beziehen, sondern sich ausschließlich an der Schulstufe orientieren.
—Für Kindergarten und Volksschule waren drei stufenbezogene Ausbildungsgänge vorgesehen: für den Kindergarten und die 1./2. Klasse der Primarschule, für die 1. bis 6. Klasse sowie für die 5. bis 9. Klasse. Für die 1. und 2. sowie für die 5. und 6. Klasse sollten also je zwei Lehrkategorien unterrichtsberechtigt sein (sogenannte Stufenüberlappung).
—Die Dauer der Ausbildung im tertiären Bildungsbereich sollte harmonisiert werden: zwei Jahre für Kindergarten und Primarstufe, drei bis vier Jahre für die Sekundarstufe I und sechs Jahre für die Sekundarstufe II (bei den beiden letzteren: inklusive fachwissenschaftliche Ausbildung).
—Die Grundausbildung sollte zugunsten des lebenslangen Lernens bzw. der Weiterbildung verkürzt werden.
—Die bestehenden Infrastrukturen sollten für die neue Lehrerinnen- und Lehrerbildung genutzt werden.
Im Folgenden wird sich zeigen, dass einige dieser Grundsätze für die Realisierung tatsächlich auch wegweisend blieben, andere aber aufgegeben werden mussten, und einzelne auch wesentlich zu den Folgeproblemen der beginnenden 2000er-Jahre beitrugen.
Diese Grundsätze zur «Gesamtkonzeption der Lehrerbildung» legten nicht nur die Eckwerte für die Berner Reform fest, sondern hatten Wirkungen über den Kanton Bern hinaus: Vergleicht man die Situation der Ausbildung von Primarlehrerinnen und Primarlehrern in den Kantonen der deutschsprachigen Schweiz, ergibt sich folgendes Bild (vgl. Badertscher et al. 1993; Criblez 2010): In der Region Zürich/Nordwestschweiz (Kantone AG, BL, BS, SH, ZH) hatte sich ein tertiäres, maturitätsgebundenes Lehrerbildungskonzept durchgesetzt. In Solothurn hatten – ähnlich wie im Kanton Bern – Diskussionen über eine Gesamtkonzeption Lehrerinnen- und Lehrerbildung begonnen, hier allerdings vor allem durch die unbefriedigende Situation der Hauswirtschafts- und Handarbeitslehrerinnen ausgelöst, ein Thema, das auch in der Berner Reform bearbeitet werden musste. In der Zentralschweiz war die Zukunft der von Kongregationen getragenen Lehrerinnen- und Lehrerbildung bereits seit einiger Zeit aus finanziellen und Nachwuchsgründen ungeklärt (vgl. Huber 2016/im Druck); grundlegende Reformen drängten sich deshalb immer dringlicher auf. Verschiedene Kantone, neben Bern insbesondere Luzern und St. Gallen als quantitativ gewichtige Kantone mit seminaristischen Konzepten, hatten zudem spätestens seit den 1950er- und 1960er-Jahren Erfahrungen mit tertiären Ausbildungskonzepten (Lehrerbildungskurse für Maturi und Maturae einerseits, für Berufsleute andererseits) gesammelt. Eine Alternative zur seminaristischen Konzeption war damit zumindest denkbar geworden. Vor diesem Hintergrund kann der Berner Entscheid für eine grundsätzlich tertiäre Lehrerinnen- und Lehrerbildung als dynamisierender Faktor für die Reform der Lehrerinnen- und Lehrerbildung in der ganzen deutschsprachigen Schweiz interpretiert werden. Mit ihm kippten die Mehrheitsverhältnisse quantitativ vom seminaristischen zum tertiären Ausbildungskonzept – noch bevor die bildungspolitischen Diskussionen über die Schaffung der Pädagogischen Hochschulen begonnen hatten.
Читать дальше