1 Ein Mann ruht.
2 Es kommt der Wunsch nach sexuellen Kontakten auf.
3 Er denkt an seine Partnerin.
4 Er geht zu ihr herüber.
5 Er kommt mit ihr zusammen.
6 Schläft nach dem Verkehr ein. (Petzold 1973, 28 19)
Die eindrucksvollen Demonstrationen, mit denen Fritz Perls (1974; 1976) seine Arbeit während seiner Zeiten in Esalen illustrierte, haben zusätzlich zu der individualistischen Lesart der Gestalttherapie beigetragen und ihr Bild in der Öffentlichkeit für mindestens ein Jahrzehnt stark geprägt – mancherorts sogar bis heute. Viele von denen, die diesen therapeutischen Ansatz zu Zeiten des antiautoritären Aufruhrs kennenlernten, waren elektrisiert von der individuellen Freiheit und persönlichen Unabhängigkeit, die das so genannte ›Gestaltgebet‹ vertrat und versprach:
Ich tue, was ich tu; und du tust, was du tust.
Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben,
Und du bist nicht auf dieser Welt, um nach den meinen zu leben.
Du bist du, und ich bin ich,
Und wenn wir uns zufällig finden, – wunderbar.
Wenn nicht, kann man auch nichts machen. (Perls 1974, 13)
Aus heutiger Sicht ist festzustellen: Zahlreiche Gestalttherapeuten – und ich schließe mich hier ausdrücklich ein – erkannten damals nicht (oder wollten nicht erkennen), dass das im ›Gestaltgebet‹ vertretene Verständnis von menschlichen Beziehungen primär die Abgrenzung der Individuen voneinander betonte. Außerdem glich die darin erst in zweiter Linie enthaltene Vorstellung von zwischenmenschlichem Kontakt stark dem Muster kaufmännischer Verhandlungen; es schien wie
eine Feilscherei – unter bestimmten Umständen ein Schlachtfeld –, bei der jedes der beiden Individuen seine Bedürfnisse zum Ausdruck bringt, ein Angebot macht, seinen Standpunkt vertritt und darum kämpft, das beste Verhandlungsergebnis für sich selbst im Interesse der eigenen Bedürfnisbefriedigung zu erreichen … Wenn die entsprechenden Bedürfnisse der Individuen kompatibel sind, ist eine Einigung leicht möglich; wenn nicht, kommt entweder gar kein Deal zustande, ein Kompromiss wird erzielt, ein Verhandlungspartner zeigt sich nachgiebig oder einer zwingt dem anderen seine Interessen auf. (Birtchnell 1993, 16) 20
Aus meiner Sicht wurde es durch dieses plumpe Verständnis menschlicher Beziehungen im Allgemeinen für Perls und andere möglich, die therapeutische Beziehung im Besonderen auf eine Art und Weise zu betrachten, die es schwer macht, ihre therapeutischen Implikationen zu sehen – zumindest aus heutiger Perspektive. Die Art, wie Perls damals die therapeutische Beziehung definierte, entsprach dem zitierten ›Gestaltgebet‹ und liest sich so:
Ich bin nur für mich selbst verantwortlich und für niemand anderen. Ich übernehme keine Verantwortung für irgendeinen von euch – ihr seid für euch selbst verantwortlich.… Wenn ihr also verrückt werden, Selbstmord begehen, euch besser machen, euch aufputschen oder ein Erlebnis haben wollt, das euer Leben verändert, so ist das eure Sache. Ich tue was ich tue und du tust was du tust. (1974, 81 f.)
Viele von uns (mich selbst eingeschlossen) fühlten sich von Perls’ Esalen-Stil inspiriert: Persönliche Veränderung und Wachstum standen im Vordergrund; Verbundenheit, Bezogenheit, Zugehörigkeit und gegenseitige Fürsorge blieben stark im Hintergrund. Abgesehen von wenigen Aussagen im Geiste der gerade zitierten, war die therapeutische Beziehung kein relevantes Thema im gestalttherapeutischen Diskurs. Jerry Greenwald, der zur Gruppe der ersten Gestalttherapeuten zählte und die Gestalttherapie unmittelbar bei Perls kennenlernte, schreibt ausdrücklich:
Für den Gestalttherapeuten ist der Vorgang der Therapie auf die Erfahrungsprozesse des Patienten beschränkt.… Ebenso betrachtet der Gestalttherapeut seine Interaktion mit dem Patienten als seine Prozesse der Selbstregulation, die sich ihm als seine Bedürfnisse nach Selbstäußerung, Verständnis und Kontakt aufdrängen. (1980, 121 f. – H.i.O.)
Offenbar machte jeder sein ›Ding‹, und selbst »Interaktion« wurde hier – man höre und staune – als ein individueller Prozess der Selbstregulation verstanden. 21Auch das Setting, in dem die Perls’schen Demonstrationen stattfanden, spiegelte die individualistische Tendenz wider; Perls betonte: »Grundsätzlich mache ich eine Art Einzeltherapie im Rahmen einer Gruppe« (1974, 80). Die Person, die ›arbeitete‹, verließ die Runde der Beobachterinnen und nahm auf dem ›heißen Stuhl‹ neben Perls Platz, woraufhin die beiden dann ein Gespräch führten, von dem der Rest der Gruppe mehr oder weniger ausgeschlossen war. Yontef sagt von dieser Arbeitsweise: Sie »ist theatralisch und kathartisch orientiert und akzentuiert mehr die Technik als die Beziehung von Person zu Person. Ich nenne sie die Hauruck-Methode (›boom-boom-boom‹ therapy)« (1999, 29).
Yontefs kritische Anmerkung wendet sich u. a. gegen ein individualistisches Missverständnis von Emotionalität, das in jener Zeit weit verbreitet war und kaum infrage gestellt wurde. »In der gestalttherapeutischen Literatur haben die Gefühle zunächst eine weit geringere Betonung erfahren, als es ihrer großen Bedeutung in der gestalttherapeutischen Praxis entsprochen hätte,« wie Hans Peter Dreitzel (1995, 494) schon vor einiger Zeit richtig feststellte, ohne dass sich seither an dem beschriebenen Sachverhalt Wesentliches geändert hätte – abgesehen vielleicht von den wertvollen Beiträgen Leslie Greenbergs (vgl. Greenberg 2002; 2011; Greenberg, Rice & Elliott 1993; Greenberg & Safran 1987; vgl. auch Gegenfurtner & Fresser-Kuby 2007 22), der sich allerdings nicht eindeutig als Gestalttherapeut identifiziert.
Zu Zeiten der ›boom-boom-boom‹ therapy – und bisweilen heute noch – konnte man als Beobachter leicht den Eindruck gewinnen, die Therapeuten verhielten sich wie Animateure, die sich auf jedes Gefühl ihrer Klientinnen in der Absicht stürzten, ihm zu möglichst großer Intensität und Ausdrucksstärke zu verhelfen, dabei möglichst beeindruckende kathartische Effekte zu erzielen und selbst als möglichst geniale Regisseure eines die Zuschauer bewegenden Schauspiels in Erscheinung zu treten.
Die Wirkungen eines solchen Vorgehens gingen oft nicht über die der unmittelbaren Show hinaus, und wenn doch, dann brachten sie häufig eine Reihe von Nebenwirkungen mit sich, die kaum reflektiert wurden. Worum es mir an dieser Stelle aber hauptsächlich geht, ist das implizite Verständnis menschlicher Emotionalität, das sich in diesen Situationen zeigte und ausgeprägte Züge einer Eine-Person-Psychologie trug: Gefühle galten hier als Prozesse ›im‹ Klienten, die dieser so deutlich wie möglich ›in sich‹ spüren sollte – bis sie eine Heftigkeit erreicht hatten, die den Wunsch entstehen ließen, sie nunmehr wieder ›loszuwerden‹.
Dieses kathartische Modell, das im Umgang mit Aggressionen besonders drastisch praktiziert wurde (zur Kritik vgl. Staemmler & Staemmler 2008), hatte Perls von Wilhelm Reich und anderen frühen Analytikern übernommen. 23Es bestand in der Vorstellung einer Abfolge von Aufladung mit Triebenergie und deren Entladung, die ihren sprachlichen Tiefpunkt in der Vokabel von der ›Abfuhr‹ ›gestauter‹ Affekte fand, so als seien Emotionen zu entsorgendes Material oder Obstipationen von Verdauungsprodukten, die ›abzuführen‹ seien. – Wie meine tendenziell polemischen Formulierungen schon andeuten sollen, halte ich dieses Denkmodell nicht für überzeugend.
Gefühle sind weder Abfall noch Luxus. »Wir brauchen sie, wenn wir anderen Menschen Bedeutungen mitteilen wollen, und vielleicht sind sie auch … zur Orientierung unserer kognitiven Prozesse erforderlich« (Damasio 1997, 181 f.). Perls et al. definierten Emotionen ursprünglich als »die integrierte Bewußtheit einer Beziehung zwischen Organismus und Umwelt« (1951/2006, 257 – H.d.V.), womit die Relationalität von Gefühlen angesprochen war. Während Perls’ Esalen-Stil den kathartischen Ausdruck von Emotionen in den Vordergrund rückte, ging der oben erwähnte Leslie Greenberg deutlich darüber hinaus, als er die Notwendigkeit betonte, dass es in der therapeutischen Praxis darum gehe,
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