Darauf folgend wird im 5. Kapitel als erster Schwerpunkt die Reichweite der Bezugnahmeklauseln untersucht. Mit Blick auf Verfahrensvorschriften zur kollektiven Arbeitsrechtssetzung im kirchlichen Arbeitsrecht besteht hierzu in Rechtsprechung und Literatur weitgehend Einigkeit. Demgegenüber hat die Frage nach der Reichweite von Bezugnahmeklauseln hinsichtlich kirchlicher Dienstvereinbarungen bisher kaum Beachtung in der arbeitsrechtlichen Diskussion gefunden. Hierzu muss zunächst die vorgelagerte Frage nach dem Rechtsgehalt der Dienstvereinbarung geklärt werden.
Als zweiter Schwerpunkt der Arbeit wird im 6. Kapitel auf die Rolle der Bezugnahmeklauseln bei einem Betriebsübergang eingegangen. Nach der grundlegenden Einordnung der Klauseln im Gefüge des § 613a BGB liegt der Fokus auf der Frage nach der Weitergeltung kleiner dynamischer Bezugnahmeklauseln bei einem Betriebsübergang von einem kirchlichen auf einen weltlichen Rechtsträger. Ausgehend von der Handhabung im weltlichen Arbeitsrecht, das in diesem Bereich stark durch die Rechtsprechung des EuGH und einer richtlinienkonformen Auslegung geprägt ist, wird die Übertragbarkeit der dort geltenden Grundsätze auf das kirchliche Arbeitsrecht geprüft.
1. Kapitel Herkunft der Bezugnahmeklauseln und Anwendbarkeit im kirchlichen Arbeitsrecht
A. Einleitung
Bezugnahmeklauseln sind einzelarbeitsvertraglich ausgehandelte Vereinbarungen zwischen einem Arbeitgeber und einem Arbeitnehmer, die auf kollektivvertragliche Arbeitsrechtsregelungen, sog. Bezugnahmeobjekte, verweisen. 1Die Aufnahme von Bezugnahmeklauseln in den Arbeitsvertrag hat zur Folge, dass der Inhalt eines Arbeitsvertrages um umfangreiche Regelungen erweitert wird. Die Klauseln bilden die Brücke vom Individualarbeitsrecht zum kollektiven Arbeitsrecht. Ausgangspunkt der Beurteilung von Bezugnahmeklauseln ist jedoch stets das einzelne Arbeitsverhältnis.
B. Bezugnahmeklauseln als Instrument des weltlichen Arbeitsrechts
Bezugnahmeklauseln haben ihren Ursprung im weltlichen Arbeitsrecht. Sie sind aber weder im kirchlichen noch im weltlichen Arbeitsrecht ausdrücklich gesetzlich normiert. Im Laufe des letzten Jahrhunderts haben sich die Bedeutung und Wirkung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel verändert und vor allem (weiter-)entwickelt.
I.Kodifikation in der Tarifvertragsverordnung der Weimarer Republik
In der Tarifvertragsverordnung (TVVO) der Weimarer Republik vom 23. Dezember 1918 2war die Bezugnahmeklausel in § 1 Abs. 2 TVVO ausdrücklich geregelt. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer einen „Arbeitsvertrag unter Berufung auf den Tarifvertrag“ abgeschlossen haben, handelte es sich bei den Parteien des Arbeitsvertrages nach § 1 Abs. 2 TVVO um am Tarifvertrag „beteiligte Personen“. An dieser Formulierung hat sich damals zugleich der Streit entfacht, ob die arbeitsvertragliche Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel zu einer Tarifbindung führen könnte. Überwiegend sah man in einer Bezugnahmeklausel ein eigenes tarifrechtliches Institut, das ebenso wie die Mitgliedschaft in einem tarifvertragsschließenden Verband eine echte Tarifgebundenheit erzielte. 3Die Bezugnahmeklausel sollte danach also eine tariflich veranlasste Tarifbindung erzeugen, die mit einer unmittelbaren Verbandszugehörigkeit einherging. 4Die Gegenansicht vertrat die Auffassung, dass eine arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel lediglich eine schuldrechtliche Einigung sei, die nicht zu einer normativen Geltung des Tarifvertrages führe. 5
II.Keine Normierung im säkularen Tarifvertragsgesetz
Das heute geltende Tarifvertragsgesetz (TVG) in der ursprünglichen Fassung vom 09. April 1949 6und der Neubekanntmachung vom 25. August 1969 7enthält keine Normierung von Bezugnahmeklauseln auf einen Tarifvertrag. Daraus kann aber nicht geschlussfolgert werden, dass sich die Legislative gegen das Institut der arbeitsvertraglichen Verweisung entschieden hat. Vielmehr hat der Gesetzgeber hervorgehoben, dass eine normative Tarifbindung stets von den im TVG normierten Voraussetzungen abhänge. Eine unmittelbare und zwingende Wirkung eines Tarifvertrages tritt gem. §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG nur ein, wenn bei beiderseitiger Tarifgebundenheit von Arbeitnehmer und Arbeitgeber der Geltungsbereich eines wirksamen Tarifvertrages betroffen ist. Die §§ 3, 4 TVG ordnen also zwingende Voraussetzungen an, die erfüllt sein müssen, damit ein Tarifvertrag normativ auf ein Arbeitsverhältnis wirkt.
III.Bezugnahmeklauseln als anerkanntes Rechtsinstitut
Nach der ständigen Rechtsprechung des BAG 8und der weit überwiegenden Auffassung im Schrifttum 9ist die Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel ein zulässiges Rechtsinstrument, um kollektivrechtlichen Arbeitsbedingungen auch ohne normative Wirkung individualvertragliche Wirkung zu verleihen. Es entspricht den Grundsätzen der Vertragsfreiheit, dass die Bestimmungen eines Tarifvertrages durch eine schuldrechtliche Vereinbarung in den Arbeitsvertrag übernommen werden können. 10Nach § 5 Abs. 1 UrhG besteht darüber hinaus kein Urheberrechtsschutz für Tarifverträge oder sonstige kollektivrechtliche Arbeitsregelungen. Sämtliche Arbeitgeber und Arbeitnehmer können, auch ohne selbst Mitglied einer tarifvertragsschließenden Partei zu sein, beliebig auf tarifliche Regelungen zurückgreifen und eine Verweisung hierauf vereinbaren. 11
IV.Bezugnahmeklauseln als schuldrechtliche Abrede ohne normative Wirkung
Da der Gesetzgeber also wieder Abstand von der Formulierung im TVVO genommen und eindeutige Regeln für eine normative Wirkung von Tarifverträgen aufgestellt hat, besteht heute insoweit Einigkeit in Rechtspraxis und Schrifttum, als es sich bei einer Bezugnahmeklausel auf kollektivrechtliche Bestimmungen um eine schuldrechtliche Vereinbarung handelt. 12Eine Bezugnahmeklausel wirkt lediglich individualvertraglich als schuldrechtliche Abrede im zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschlossenen Arbeitsverhältnis. Trotzdem wird vereinzelt – im Ergebnis aber nicht überzeugend – versucht auch aus der schuldrechtlichen Abrede eine unmittelbare und zwingende Wirkung zu begründen, die zu einer normativen Wirkung führen soll. 13Einem derartigen Verständnis steht allerdings der eindeutige Gesetzeswortlaut des TVG entgegen. Liegen die im TVG geregelten Voraussetzungen nicht vor, können durch die Vereinbarung einer Bezugnahmeklausel zwar gegenwärtige und/ oder potenzielle normative Geltungsdefizite eines Tarifvertrages überwunden werden, eine unmittelbare und zwingende Wirkung kann die schuldrechtliche Klausel aber nicht herbeiführen. 14
Eine normative Wirkung kann auch nicht dadurch erzielt werden, wenn dies in der Bezugnahmeklausel ausdrücklich vereinbart wird. Zwar sind Bezugnahmeklauseln als schuldrechtliche Abreden für gewöhnlich nur an die Grenzen der Privatautonomie gebunden. Die Grenzen der Privatautonomie nach §§ 241 Abs. 1, 311 Abs. 1 BGB sind aber dann überschritten, wenn eine schuldrechtliche Vereinbarung eine unmittelbare und zwingende Geltung herbeiführen soll. 15
V.Keine Unzulässigkeit aus dem Spannungsverhältnis der Bezugnahmeklauseln
Zweifel an einer Zulässigkeit von Bezugnahmeklauseln werden, ohne jedoch eine generelle Unzulässigkeit einer einzelvertraglichen Bezugnahme zu fordern, vor allem mit Blick auf ein Spannungsverhältnis zwischen Bezugnahmeklausel und Tarifautonomie geäußert. 16Die Kritiker berufen sich darauf, dass durch eine umfassende Verwendung von individualvertraglichen Bezugnahmeklauseln Reibungen und Kollisionen mit der verfassungsrechtlich geschützten Tarifautonomie nach Art. 9 Abs. 3 GG entstünden. 17Ausgangspunkt ist, dass weder ein tarifgebundener noch ein tarifungebundener Arbeitgeber nach der Gewerkschaftszugehörigkeit potenzieller Arbeitnehmer fragen darf und dementsprechend „sicherheitshalber“ mit sämtlichen Arbeitnehmern eine Bezugnahmeklausel vereinbart. 18So ist aus Sicht des Arbeitgebers gewährleistet, dass für alle in seinem Betrieb tätigen Arbeitnehmer die gleichen Arbeitsbedingungen gelten. Dieses Vorgehen laufe den Interessen der Gewerkschaften zuwider und würde sie in Art. 9 Abs. 3 GG verletzen, so die Argumentation der Kritiker. 19Denn durch die Vereinabrung einer Bezugnahmeklausel habe auch ein Außenseiter die Möglichkeit, in den Genuss der durch Tarifvertrag vereinbarten Arbeitsbedingungen zu kommen. Sie bemerken weiter, Bezugnahmeklauseln würden somit zur Entbehrlichkeit eines Gewerkschaftsbeitritts führen, was eine Schwächung der Position der Gewerkschaften zur Folge habe. 20Damit gehe ein klarer Vorteil für nicht organisierte Arbeitnehmer einher, die – ohne eigenes Engagement und ohne Beitragszahlungen an die Gewerkschaft – an den erkämpften tariflichen Leistungen partizipieren könnten. 21Dieses „Trittbrettfahren“ vieler Arbeitnehmer könne durch die zunehmende Schwächung der Gewerkschaften zu einem Absinken des Tarifniveaus oder im Extremfall sogar zu Arbeitsbedingungen, die nicht auf einem Tarifvertrag beruhen, führen. 22
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