»Natürlich, mein König.« Der riesige Raum verschluckte Rielles Stimme.
König Bastien nickte und hielt inne. Die Silberfäden in seinem schwarzen Bart und die Lachfältchen in seinem braunen Gesicht ließen ihn älter wirken, als Rielle ihn je empfunden hatte.
Sein Blick wurde hart. Rielle widerstand dem Drang, vor der neuen, gefährlichen Spannung im Raum einen Schritt zurückzuweichen.
»Wie lange«, fragte er mit kühler und sachlicher Stimme, »weißt du schon, dass du Macht über die Elemente besitzt?«
Irgendwie hatte Rielle gedacht, es würde etwas weniger direkt beginnen. Mit einer Frage oder zwei oder fünf, die ihr Zeit geben würden, ihre Stimme zu finden.
Aber wenigstens, dachte sie, glaubten sie, dass sie nur eine Elementherrscherin war und nicht – was auch immer sie in Wirklichkeit war. Vielleicht würde ihre Strafe – und die von Tal und ihrem Vater – dadurch nicht so streng ausfallen, wie sie befürchtet hatte.
Die Worte der Prophezeiung gingen ihr durch den Kopf. Sie werden die Macht der Sieben besitzen.
»Seit ich fünf Jahre alt war«, antwortete sie.
»Und wie bist du zu diesem Schluss gekommen?«
Er fragte das so beiläufig, als wüssten sie die Antwort nicht längst.
Ein Stuhl knarrte, als jemand das Gewicht verlagerte. Rielle sah hinüber und erkannte Tals Schwester Sloane Belounnon, die mit dem übrigen Richterrat rund um den Archon saß. Sie verharrte starr auf ihrem Stuhl und ihr dunkles, kinnlanges Haar wirkte wie ihr fahler Teint ungewohnt streng. Sie sah aus, als hätte sie nicht geschlafen.
Wie musste Sloane sich fühlen, nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Bruder ihr ein solches Geheimnis vorenthalten hatte?
»Als ich … als ich fünf Jahre alt war«, fuhr Rielle fort, »habe ich unser Haus in Brand gesteckt.«
»Wie?«
»Ich war wütend. Meine Mutter und ich hatten uns gestritten.«
»Worüber?«
Es klang lächerlich, furchtbar belanglos. »Ich wollte nicht schlafen gehen. Ich wollte mit Vater aufbleiben und lesen.«
»Deshalb«, sagte der König gelassen, »hast du euer Haus in Brand gesteckt.«
»Es war ein Unfall. Ich war wütend und die Wut hat sich gesteigert, bis ich sie nicht mehr beherrschen konnte. Ich bin hinausgerannt, weil mir das Gefühl Angst gemacht hat. Es hat sich angefühlt, als würde etwas in mir brennen. Und dann … als ich mich umwandte«, sagte sie, während die Erinnerung von ihr Besitz ergriff, »sah ich, wie das Feuer unser Haus erfasste. Im einen Moment war es noch nicht da und im nächsten plötzlich schon.«
»Und du hattest es ausgelöst.«
»Ja.«
»Woher wusstest du das?«
Woher wusste man, wenn man die eigene Hand sich bewegen sah, dass sie am eigenen Arm befestigt war, an der eigenen Schulter und zum eigenen Blut und den eigenen Knochen gehörte? Von selbst.
»Ich wusste es, weil es wie ich ausgesehen und geklungen und sich angefühlt hat«, erklärte sie. »Es fühlte sich genauso an wie meine Wut. Der gleiche Geruch, der gleiche Geschmack. Ich fühlte mich damit verbunden.« Sie zögerte. »Großmagister Belounnon hat mir seitdem geholfen zu verstehen, dass das, was ich damals gespürt habe, das Empirium war. Die Verbindung zwischen mir und dem Feuer war die Kraft, die alle Dinge miteinander verbindet, und ich hatte Zugang dazu.«
Rielle riskierte einen Blick auf den Archon, der neben dem Richterrat saß. Er starrte sie ungerührt an, ohne mit seinen kleinen, hellen Augen zu blinzeln. Das Licht der Fackeln ließ sein bleiches Gesicht und seinen glatten Schädel glänzen.
»Und konnte deine Mutter entkommen?«, fuhr der König fort.
Rielle schnürte es die Kehle zu, und einen Moment lang konnte sie nicht sprechen. »Nein. Sie saß im Haus in der Falle. Mein Vater rannte hinein, um sie herauszuholen. Sie war noch am Leben, doch dann …«
Sag es, Kind. Die Stimme kehrte zurück, voller Mitgefühl. Sag es ihnen. Sie können dir nichts tun.
Angesichts der steinernen Heiligen, die auf sie herabstarrten, die gefühllosen Augen kalt und ernst, hätte die fremde Stimme kein Trost sein dürfen. Trotzdem beruhigte es ihren aufgewühlten Magen, sie zu hören.
»Ich hatte Angst«, fuhr sie fort, »als ich meine Mutter sah. Ich hatte nie zuvor Verbrennungen gesehen. Sie hat geschrien und ich habe sie angebrüllt, sie soll aufhören, doch sie hat nicht aufgehört, und dann … konnte ich nur noch daran denken, dass ich sie unbedingt dazu bringen muss, mit dem Schreien aufzuhören.« Rielle hetzte durch die Geschichte, als wollte sie die Erinnerung an diese lodernden Flammen hinter sich lassen. »Dann hat sie aufgehört. Mein Vater hat sie auf die Erde gelegt und sie angebrüllt, dass sie aufwachen soll. Aber sie war tot.«
Bewegung kam in die Zuschauer, es wurde getuschelt.
»Und du hast diesen Mord dreizehn Jahre lang vor uns geheim gehalten«, sagte König Bastien.
»Es war kein Mord«, widersprach Rielle, sie sehnte sich danach, zu sitzen. Ihr Körper war noch wund von den Kämpfen in den Bergen. »Ich wollte meine Mutter nicht töten. Ich war ein Kind und es war ein Unfall.«
»Wir beschäftigen uns hier mit Fakten, nicht mit Absichten. Fakt ist, dass du Marise Dardenne getötet hast und dass du – mit der Hilfe deines Vaters und von Großmagister Belounnon – dreizehn Jahre lang in dieser Sache gelogen hast.«
»Wenn mich jemand gefragt hätte, ob ich meine Mutter getötet habe, und ich es geleugnet hätte«, erwiderte Rielle und sah dem König direkt in die Augen, »dann wäre das eine Lüge gewesen, Eure Majestät. Ein Geheimnis zu wahren ist nicht lügen.«
»Lady Rielle, Spitzfindigkeiten interessieren mich nicht. Du hast verheimlicht, welchen Schaden du anrichten kannst, während du an meinem Tisch gegessen hast und während du mit meinem Sohn und meiner Nichte zur Schule gegangen bist, und hast damit sie und alle anderen um dich herum in Gefahr gebracht. Manche würden eine derartige Täuschung auch als Verrat bezeichnen.«
Verrat. Rielle hielt den Blick auf König Bastien gerichtet und presste die Hände an ihre Schenkel. Falls er ihr Angst hatte einjagen wollen, war ihm das gelungen.
»Und am Tag des Pferderennens«, sagte der König, »hast du nicht nur ein Feuer entfacht, als du diese Männer attackiert hast –«
Zorn wallte in ihr auf. Wenn sie des Verrats für schuldig befunden wurde, dann konnte sie sich diese Strafe genauso gut verdienen. »Als ich Prinz Audric das Leben gerettet habe, meinen Sie.«
Lauteres Murmeln ertönte von der Galerie, doch König Bastien neigte nur den Kopf. Rielle wusste, das war der einzige Dank, den sie dafür bekommen würde, doch es genügte, um ihr ein wenig Mut zu machen.
»Als du diese Männer attackiert hast«, fuhr der König fort, »hast du nicht nur ein Feuer entfacht. Du hast den Erdboden entzweigerissen. Du hast Felsplatten aus den Bergen geschnitten. Einer der überlebenden Reiter hat beschrieben, wie du Sonnenlicht aus der Luft gesammelt hast, einzig und allein mit deinen Händen. Eine andere Reiterin behauptet, du hättest die Attentäter von ihren Pferden geworfen, ohne dass sie irgendwelche Hilfsmittel hätte entdecken können. Obwohl die Attentäter selbst Elementherrscher waren, hast du sie mühelos überwältigt.« Der König sah von seinen Notizen auf. »Stimmt das mit deinen eigenen Erinnerungen überein?«
Dann wussten sie also, was sie getan hatte, und dass sie nicht nur eine einfache Elementherrscherin war. Ihr schmerzte der Kiefer, so fest biss sie die Zähne zusammen. »Ja, Eure Majestät.«
»Dann bist du also nicht nur eine Feuerzeichnerin, sondern auch eine Erderschütterin, eine Sonnenbändigerin und vielleicht auch noch anderes. Ich glaube, du wirst unsere Besorgnis verstehen, wenn wir uns vor Augen führen, was das bedeutet. Kein Mensch, der je gelebt hat, war imstande, mehr als ein Element zu kontrollieren. Nicht einmal die Heiligen.«
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