»Ich lasse ebenfalls nicht zu, dass sie dir etwas antun«, wiederholte Ludivine mit fester und klarer Stimme. »Niemals. Hörst du mich?«
Rielle versuchte unbeschwert zu klingen. »Ach, und was willst du tun? Die liebliche Lady Ludivine könnte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun, hat man mir gesagt.«
Ludivine lächelte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch Rielle hielt sie davon ab. Der Augenblick der Stille hatte eine Erinnerung heraufbeschworen.
»Jemand hat zu mir gesprochen«, stieß sie abrupt hervor.
Ludivine blinzelte verständnislos. »Was?«
»Davor. Ich habe das Feuer gesehen und konnte nicht aufstehen. Audric hat mich aufgefangen, und dann … habe ich jemanden zu mir sprechen hören.«
»Du meinst, Audric hat zu dir gesprochen?«
»Nein. Jemand anders. Es war …« Rielle hielt inne und versuchte sich genau an das Gefühl zu erinnern, wobei ihre Haut prickelte, als hätte ihr jemand mit einer Feder über den Bauch gestrichen. »Es kam aus meinem Inneren.«
Ludivine zog eine Braue hoch. »Audrics Heiler meinte, du könntest leichtes Fieber haben.«
»Nein, Lu, ich sage dir –«
Jemand klopfte an der äußeren Tür zu Ludivines Gemächern, und die Zofe kam wieder hereingeeilt, die Augen weit aufgerissen. Sie blickte hinter sich: »Ich bitte um Verzeihung, Mylady, aber Sie haben Besuch –«
Ludivine behielt Rielles Hand in ihrer. »Lady Rielle kann noch keine Besucher empfangen.«
»Entschuldigen Sie, Mylady, ich habe versucht, es zu erklären –«
»Es ist der König«, sagte Rielle. »Nicht wahr?«
Das Mädchen sah ihr nicht in die Augen. »Man hat mir befohlen, Bescheid zu geben, sobald Sie aufgewacht sind, Mylady.«
»Seine Majestät hat viele Fragen, Rielle«, erklang eine ihr wohlbekannte Stimme.
Lord Kommandant Armand Dardenne schritt aus dem Wohnzimmer herein und stieß die Tür zu Ludivines Schlafgemach auf, ohne sich die Mühe zu machen anzuklopfen. Er war ein Mann wie aus Stahl und Eisen, makellos von Kopf bis Fuß. Nun musterte er seine Tochter mit der Herzlichkeit einer Statue.
Rielle preschte vor. »Ist Tal –?«
»Großmagister Belounnon wurde bereits von den Räten befragt«, fiel ihr Vater ihr ins Wort. »Genau wie ich. Du bist die Nächste. Zieh dich ordentlich an.«
Ohne ein weiteres Wort führten Ludivine und ihre Zofen Rielle hinter den Wandschirm und steckten sie in ein mattblaues und elfenbeinfarbenes Kleid mit hohem Kragen und Bändern an den Ärmeln. Es war hübsch genug, um ihr zu schmeicheln, und schlicht genug, um keinen Anstoß zu erregen.
»Sollte ich jetzt verärgert sein, weil du ohne meine Erlaubnis deine Mädchen losgeschickt und in meinem Kleiderschrank hast wühlen lassen?«, murmelte Rielle mit einem halbherzigen Lachen.
»Es ist mir völlig gleich, ob du verärgert bist oder nicht«, sagte Ludivine und strich Rielles Röcke glatt. »So viele Jahre bist du schon unter meiner Anleitung, und noch immer kann ich mich nicht darauf verlassen, dass du deine Kleidung passend zur Gelegenheit auswählst.«
»Manche würden sagen, mein Modebewusstsein ist eben einzigartig und fortschrittlich.«
»Ja, aber dieses Modebewusstsein solltest du lieber nicht bei einer Befragung durch den König zur Schau stellen.« Ludivine gab einer ihrer Zofen ein Zeichen. »Ich brauche die juwelenbesetzten Kämme dort drüben auf dem Tisch.«
Nachdem Ludivine ihr das lange dunkle Haar nach hinten gesteckt hatte, überprüfte Rielle ihr Aussehen im Spiegel. Sie wirkte klein und fremd, und die Weichheit ihres Kleids stand in starkem Kontrast zu den roten Kratzern auf ihrem Gesicht und den Schatten unter ihren scharfen grünen Augen.
»Wenn du dann so weit bist«, erklang die Stimme ihres Vaters.
Rielle schloss die Augen und holte tief Luft, doch ehe sie aufbrechen konnte, zog Ludivine sie in eine herzliche Umarmung und küsste sie auf die Wange.
»Vergiss nicht«, flüsterte Ludivine, »wenn dir irgendjemand etwas antun will, muss er erst an mir vorbeikommen. Und an Audric. Und an Tal. Und an vielen, vielen anderen. Der König wird nicht überstürzt handeln. Vertraue ihm. Vertraue uns.«
Rielle hielt Ludivine noch einen Moment lang fest, ehe sie hinter dem Wandschirm hervortrat. Ihr Vater bot ihr seinen Arm an, den sie widerwillig akzeptierte.
»Vater«, begann sie, »ehe wir hinuntergehen –«
Er ignorierte sie. »Im Augenblick lechzen alle im Schloss nach Klatsch und Tratsch. Sprich von nichts Wichtigem, während sie uns nach unten bringen.«
»Sie?«, fragte sie, aber sobald sie das Wohnzimmer betreten hatten, begriff sie.
Zwanzig Soldaten der königlichen Wache warteten mit gezückten Schwertern auf sie.
Rielle wankte nur kurz, als die Wachen sie aus Ludivines Gemächern in den Korridor mit den zahlreichen Fenstern brachten, wo das morgendliche Sonnenlicht den geschliffenen Stein in einen goldenen Glanz tauchte.
Sie reckte das Kinn und biss die Zähne zusammen. Audric lebte noch. Sie bereute nicht, was sie getan hatte.
Gut, ertönte die Stimme und klang erfreut. Du sollst auch nichts bereuen. Es war allerhöchste Zeit.
Sie fieberte. Sie war erschöpft und bildete sich Sachen ein.
Dennoch …
Wer bist du?, dachte sie.
Es kam keine Antwort.
Das Schweigen machte sie nervös, und obwohl es kindisch war, konnte sie sich nicht verkneifen, zu ihrem Vater zu sagen: »Ich fürchte mich nicht.«
»Meine Tochter«, antwortete er mit einem neuen, verstörten Unterton in der Stimme, »das solltest du aber.«
»Sie nennen ihn den Wolf. Unsere Informanten berichten, dass er der Liebling des Propheten ist. Sie behaupten, dass er nicht gefangen werden kann, aber seid versichert, Mylord: Wir werden diesen Wolf finden, seinem Körper jedes Geheimnis entreißen und ihn dann ausbluten lassen.«
Bericht von Lord Arkelion an seine heilige Majestät, den Kaiser der Unsterblichkeit
21. Juni im Jahr 1018 des Dritten Zeitalters
Der Wolf fesselte ihre Hände ans Treppengeländer und befahl ihr, sich auf die unterste Stufe zu setzen. Dann nahm er zu ihrer Überraschung seine Maske ab und schob die Kapuze zurück.
Elianas Madame hatte stark übertrieben.
Seine Narben liefen in silberfarbenen Streifen über Stirn, Nase und Wangen. An einigen Stellen war seine Haut geschädigt, von Feuer oder Wind, doch das Gesicht selbst, das von zerzausten, aschblonden Haaren eingerahmt wurde, war ernst und klar. Attraktiv.
Aber mit den Augen hatte die Madame recht gehabt: eisblau und hart wie ein Diamant.
»Gefällt dir, was du siehst?«
Eliana blickte kurz zu ihm auf. Dann beugte sie sich zu ihm, bog aber den Rücken so weit durch, dass er keine falschen Vorstellungen bekam.
Der Wolf kniete sich vor sie. »Du bist gut.«
Grinsend musterte sie ihn von oben bis unten – groß und schlank, schmal geschnittene Hose und Weste, ein Hemd mit Manschetten, Waffenhalfter an einer Schärpe um seinen Oberkörper und ein tief sitzender Gürtel, der auf seiner Hüfte lag. »Das bist du auch, Wolf. Es ist ein Jammer, dass ich dich töten muss. Wenn wir uns unter anderen Umständen begegnet wären, hätte ich gern dein Schwert gesehen.«
»Das ist gewiss eine herbe Enttäuschung.« Jetzt ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern. »Du bist viel witziger, als ich gedacht habe.«
»Witzig?« Sie lachte kehlig. »Du hast ja keine Ahnung, wie witzig ich wirklich sein kann.« Sie lehnte sich so weit zurück, wie es ihre gefesselten Hände zuließen, und tat gelangweilt. »Also gibt es dich doch. Den mächtigen Wolf. Den gefürchteten Feldherrn der Roten Krone, den unaufhaltsamen Soldaten. Die rechte Hand des Propheten höchstpersönlich. Wenn du mich fragst, mehr Hund als ein Wolf. Ihr Rebellen seid doch alle gleich.«
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