Eliana starrte in das ausdruckslose metallene Gesicht, das drohend näher kam, suchte hinter dem Gitter nach den Augen und fand keine.
»Nimm deine Maske ab«, befahl er.
Das tat sie, und dann fixierte sie ihn mit dem besten Lächeln, das sie zustande brachte.
»Ein Fluch«, murmelte er und sein Atem strich über ihre Wange, »ist bloß ein Gefühl, das man ganz leicht zermalmen kann. Aber Wölfe, meine Liebe, haben Zähne.«
»Hüte dich vor dem Lächeln der Sauvilliers –
Schön wie die Nacht, wenn der Mond aufgeht,
Frisst sich tief in die Knochen, bis dein Auge bricht,
Sagt ein Mann vom Fluss, der die Wahrheit spricht.«
Celdarisches Reiselied
Rielle schoss in die Höhe, aus feuerumrahmten Träumen in eine Welt plötzlicher Panik.
»Audric«, krächzte sie. Das Wort kratzte an ihrer wunden Kehle. Er musste in der Nähe sein. Wenn er gestorben war, wenn er gestorben war …
»Still.« Kühle Hände hielten ihr einen Becher Wasser an die Lippen, halfen ihr trinken. »Er ist am Leben und wohlauf.«
Rielle blinzelte und konnte allmählich Ludivines Gesicht erkennen. Ludivine trug das lange gewellte goldene Haar offen. Ihre hellblauen Augen leuchteten, der einzige Spalt in ihrer Rüstung aus Gelassenheit. Mit dem offenen Haar und dem frischen Gesicht hätte man sie für wesentlich jünger halten können als neunzehn Jahre. Dennoch war sie die Tochter eines hohen Lords, eine Lady aus dem Haus Sauvillier, Cousine und Verlobte des Kronprinzen und Celdarias zukünftige Königin – und selbst im Morgenrock erfüllte sie genau ihre Rolle.
»Du bist wach«, sagte sie lächelnd. »Zwei Tage lang warst du immer wieder bewusstlos. Wir konnten dir nur ein paar kleine Häppchen geben und dir manchmal einen Schluck Wasser einflößen.« Ludivine runzelte die bleiche Stirn und umfasste Rielles Hände mit ihren. »Du hast mir Angst gemacht, Liebes.«
»Sag mir, was passiert ist«, forderte Rielle und versuchte sich aufzusetzen.
Ludivine zögerte. »Du brauchst Ruhe.«
Doch da fiel Rielle ein, wie Maliya zusammengebrochen war, und schlagartig wurde ihr so übel, dass sie sich heftig übergeben musste. Ludivine hielt ihr die widerspenstige dunkle Mähne aus dem Gesicht und rieb sie zwischen den Schultern, während Rielle ihren Mageninhalt auf den Fußboden entleerte.
Eine von Ludivines Zofen eilte herüber, um die Sauerei wegzuwischen, ehe sie einen ängstlichen Blick auf Rielle warf. Das Mädchen putzte die Lache weg und flüchtete so rasch ins Wohnzimmer, wie es der Anstand erlaubte.
Rielle sah ihr nach. Sobald sie wieder mit Ludivine allein war, verlangte sie nach Aufklärung. »Erzähl es mir.«
»Die Attentäter sind tot«, sagte Ludivine leise. »Fünfzehn der Reiter sind tot. Wir … wir wissen nicht, wie jeder einzelne von ihnen umgekommen ist, aber wir schreiben die Schuld an ihrem Tod den Attentätern zu und den Umständen des Rennens selbst.«
Rielle konnte Ludivine nicht in die Augen schauen. Sie ertrug es kaum, ihre eigene körperliche Existenz zu spüren. Fünfzehn Reiter tot. Fünfzehn.
In ihrem Blut dröhnte die Erinnerung daran – die herabfallenden Felsbrocken und die in Flammen stehende Erde, die gestürzten Reiter und das Gebrüll ihrer Pferde.
Sie ballte die Fäuste, schloss die Augen und zählte ihre Atemzüge. »Lu, es tut mir leid.«
»Alle anderen sind in Sicherheit«, fuhr Ludivine fort. »Tal und seine Tempeldiener haben das Feuer unter Kontrolle gebracht, ehe es sich bis zu den Rennställen und den Feldern ausbreiten konnte.«
Das Feuer. Ihr Feuer.
Rielle wusste nicht einmal mehr, wie es begonnen hatte. Das ganze Geschehen, seit sie die Mörder gesehen hatte, die sich um Audric geschart hatten, war nichts als ein wirrer Nebel.
Scham packte sie wie eine heiße Faust. »Gut. Ich werde mich wohl persönlich bei ihnen bedanken müssen.«
»Das ist das Mindeste«, sagte Ludivine, doch ihre Stimme klang sanft. »Dein Pferd …«
Rielle stieß einen erstickten Laut aus. Sie spürte noch immer das Fleisch des armen Tieres, das unter ihrer Berührung Blasen geworfen hatte. Die Attentäter hatten den Tod verdient, aber nicht Maliya und nicht die fünfzehn anderen Reiter.
Sie schloss die Augen. »Odo wird wütend sein.«
»Er ist nur froh, dass du noch lebst.«
»Und Audric?«
Ludivine legte eine Hand über die von Rielle. »Audric geht es gut.«
»Er ist nicht verletzt?«
»Wirklich, Rielle. Es geht ihm bestens. Ich sollte ohnehin bald nach ihm schicken. Er kann es kaum erwarten, mit dir zu sprechen.«
Rielle registrierte den förmlichen Unterton in der Stimme ihrer Freundin. Manchmal hätte sie schwören können, dass Ludivine bis ins Kleinste über ihre Gefühle Bescheid wusste. »Noch nicht.« Wenn ich ihn sehe, sage ich etwas Unverzeihliches. Dann verrate ich zu viel. »Es gibt vieles zu erklären, und ich –«
»Ja, allerdings. Ich wusste nicht, dass du eine Erderschütterin bist, Rielle. Und eine Feuerzeichnerin noch dazu?«
Rielle erstarrte angesichts der trügerischen Süße in Ludivines Stimme. Es war ein Tonfall, den sie ihr gegenüber nur selten verwendete. »Ich bin keines von beiden.«
»Du bist auf jeden Fall irgendetwas. Die Hauptstadt ist in hellem Aufruhr. Tote können wir wegerklären. Aber verschobene Bergketten, verbrannte und zertrümmerte Erde? Da haben viele Leute Fragen.«
»Und der König will Antworten.«
»Ja.«
»Tja, die wird er wohl aus mir herausfoltern müssen.«
»Das ist nicht lustig.«
»Ich will nicht –«
»Hör auf, mich anzulügen.« Ludivine erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. Als sie sich wieder umwandte, war ihr Gesicht zornesrot. »Wie konntest du das vor mir geheim halten? Wir vertrauen einander. Ich hätte nie zugelassen, dass dir etwas zustößt.«
»Es war nicht die Wahrheit, die für dich bestimmt war«, erwiderte Rielle reserviert.
»Und was ist das für eine Wahrheit? Was ist da draußen passiert? Was bist du?«
Das war ein Schlag. Rielles Stimme wurde brüchig. »Wenn ich das nur selbst wüsste.«
»Die Prophezeiung besagt …« Ludivine hielt inne, um sich zu sammeln. »›Sie werden die Macht der Sieben besitzen.‹ Die beiden Königinnen werden imstande sein, sämtliche Elemente zu beherrschen, nicht nur eines.«
Rielle stieß ein harsches, müdes Lachen aus. »Willst du mir allen Ernstes die Prophezeiung erklären?«
»Die Leute werden glauben, du bist eine der beiden.«
»Das ist mir durchaus bewusst, Lu.«
»Es sind bereits Gerüchte im Umlauf. Die Stadt –«
»Hat Angst?« Rielle rieb sich mit zitternden Händen das Gesicht. »Da ist sie nicht allein.«
»Ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse voreinander.«
»Ich kann es unterbinden. Ich brauche nur … mehr Zeit.«
»Unterbinden? Als wäre diese Kraft, die du in dir trägst, nur eine schlechte Angewohnheit? Das sind die Worte deines Vaters.«
Rielle schloss die Augen. »Mein Vater. Gott steh mir bei.«
»Er ist jetzt beim König.«
Rielle sank der Mut, doch sie zwang sich, das Kinn zu heben. »Ich lasse nicht zu, dass sie mich töten.«
Ludivines Miene wurde weich. »Rielle …«
»Sie können es versuchen, und ich bin sicher, das werden sie auch. Aber ich lasse es nicht zu.« Mit pochendem Schädel erhob sie sich.
Ludivine fasste Rielle sanft am Handgelenk und legte dann die Hände um ihr Gesicht. Rielle ließ die Augen zufallen. Ludivines Duft – Lavendelöl und saubere Haut – hüllte sie in Erinnerungen: Morgenspaziergänge im Garten, die Arme untergehakt. Kindheitsnächte, in denen sie, Ludivine und Audric aneinandergeschmiegt vor dem breiten Kamin in seinen Gemächern lagen.
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