Sie vernahm einen Angstschrei und blickte zurück, auf den Weg, den sie gekommen war. Das rußgeschwärzte Land hinter ihr sah aus, als wäre es von Monsterklauen aufgerissen worden. Andere Reiter brachten ihre Pferde zum Stehen und lenkten sie weg von dem zerfetzten Erdreich.
Unter Rielle hoben und senkten sich Maliyas glitzernde Flanken. Sie forderte zu viel von ihrem Pferd. Sie sollten nicht so schnell reiten.
Doch Rielle wollte nicht anhalten.
Dort, direkt vor ihnen, waren die Attentäter aus Borsvall. Sie ritten jetzt zum Pass, preschten durch die Berge in Richtung Stadt zurück, um Audric den Weg abzuschneiden. Riesige Felsen rollten zu beiden Seiten des Passes hinab und prallten aufeinander, sodass Erde und Steine aufflogen. Die anderen Reiter versuchten dem Geröll auszuweichen, was nur manchen gelang. Einige Männer stürzten und standen nicht wieder auf.
Rielle erwog, stehen zu bleiben, um dem Nächsten zu helfen, doch dann sah sie den Speer eines der Attentäter aufblitzen, der klebrige Feuerklumpen auf Audric schleuderte. Ein Feuerzeichner. Die Flammen hefteten sich an Audrics Umhang und Stiefel. Er duckte sich unter einem Feuerstreifen, der über seinen Kopf flog, und lenkte sein Pferd nach rechts. Die Luft um ihn herum leuchtete und prasselte. Brannte seine Macht als Sonnenbändiger nicht darauf, loszubrechen?
Rielle trat Maliya in die Flanken. Schneller, schneller.
Wenn ihm irgendetwas zustieß, wenn er starb, bevor sie ihm sagen konnte …
Zu beiden Seiten von ihr platzte der Boden auf. Frische Flammen loderten aus dem Erdreich, das sie aufgerissen hatte, und tauchten ihr Gesicht in Hitze. Steine flogen in alle Richtungen. Einer prallte gegen die Schulter eines anderen Reiters, während der Mann versuchte, Rielle auszuweichen, und stürzte.
Schuldgefühle überkamen sie, doch auf einmal brüllte Maliya, die jede Orientierung verloren hatte. Irgendetwas stimmte nicht. Ihr Gang war ungleichmäßig.
Rielle kam ins Rutschen und wäre beinahe vom Sattel gefallen. Mühsam zog sie sich wieder hinauf und atmete einen Mundvoll Rauch ein.
Maliya stieß ein weiteres schreckliches Schnauben aus. Sie keuchte. Rielles Beine brannten. Alles war zu heiß.
Ein Stück vor ihr hatte Audric es bis zum Pass geschafft.
Rielle trieb Maliya härter an, und sie folgten ihm dorthin. Die Luft war voller Rauch und Flammen und dem Poltern fallender Steine. Das berauschende Hochgefühl der Macht, die durch Rielles Körper brauste, war so überwältigend, dass sie sich kaum im Sattel halten, kaum denken, kaum atmen konnte.
Und irgendwo ganz in der Nähe brannte etwas.
Hinter den Attentätern ein Farbblitz und der Schrei eines Mannes: Audric, gerade noch außer Reichweite seiner Angreifer, trieb sein Pferd immer schneller an. Doch die Männer aus Borsvall waren ihm dicht auf den Fersen.
Rielle leckte sich die Lippen, schmeckte Schweiß.
Sie hatte keine Waffen dabei. Warum hatte sie keine Waffen mitgenommen?
Der borsvallianische Reiter, der ihr am nächsten war, drehte sich im Sattel um und schrie entsetzt auf. Er schleuderte seine Axt in die Luft und riss sie wieder zurück. Rielles Pferd machte unter ihr einen Satz, stieß einen schrillen Schrei aus und strauchelte. Der Mann war ein Metallmeister; seine Kraft flog durch seine Urform aus seinem Körper heraus und zerrte Maliyas Trense nach links und rechts und dann wieder nach links. Ein säuerlicher metallischer Geruch in der Luft ließ Rielle würgen. Sie griff nach unten und warf alles, was sie fühlte, nach dem Reiter.
Hitze schoss durch ihren Körper, vom Bauch bis in die Finger. Ein weiß glühendes Geschoss flog auf den Reiter aus Borsvall zu und umhüllte ihn mit Gold. Einen Moment lang verkrampfte er sich und seine Umrisse waren von Licht gezeichnet. Dann wälzte er sich am Boden, während seine Axt neben ihm zu Asche zerfiel.
Rielle jagte an ihm vorüber. Sein Geruch verursachte ihr einen Brechreiz, genau wie der Anblick des verkohlten Haufens, der einmal ein lebendiger Mensch gewesen war.
Wie ihre Mutter.
Sie waren an jenem Tag zu Hause gewesen, umgeben von Kerzen. Ein Abendgebet, ein dummer Streit – und eine Explosion.
Rielle blickte auf ihre Hände. Die Reithandschuhe waren versengt, blutige Streifen zogen sich über ihre Handflächen. Sie drehte eine Hand nach links und dann nach rechts. Ein weißgoldener Schimmer blitzte unter ihrer Haut und verblasste wieder.
Sonnenlicht.
Wäre Magistra Guillory nicht stolz auf sie? Eine echte Sonnenbändigerin, die die Sonne mit bloßen Händen herunterholen konnte.
Sie lachte, ein gebrochener Laut. Was geschah mit ihr? Ihr Körper war ein Leuchtfeuer, das sich immer weiter ausbreitete, und sie konnte es nicht aufhalten.
Sie ließ die Zügel fallen, während ihr Instinkt ihr befahl, nach einer Waffe zu greifen, und obwohl sie nur in leere Luft griff, knisterten ihre Handflächen vor Hitze. In blinder Panik schleuderte sie ihre Hände nach den borsvallianischen Angreifern. Eine unsichtbare Macht warf die Männer zu Boden. Ihre reiterlosen Pferde brachen aus, verrückt vor Angst.
Benommen sah Rielle sich um. Die bebende Welt hinter ihr war ein Spinnennetz aus Rissen. Ihr Verstand fühlte sich ähnlich zerrissen an, als hätte ihre Macht alles in ihr zum Einsturz gebracht.
Wo war Audric? Hektisch hielt sie durch Rauch und Staub Ausschau nach ihm.
»Rielle!« Eine vertraute Stimme.
Es war Audric, zu Fuß. Sie musste auch ihn vom Pferd geworfen haben, und jetzt humpelte er. Rielle trieb Maliya zur Eile an. Audric wich vor ihrem Anblick zurück. Ein schrecklicher Ausdruck legte sich über sein Gesicht.
Was sah er?
Ein dicker schwarzer Pfeil sauste an ihr vorüber.
Rielle riss Maliya herum, so hart, dass sie das Einschneiden der Trense in ihrem eigenen Mund spürte. Sie hielt auf den Mann zu, der auf sie geschossen hatte. Er musterte sie und griff nach dem nächsten Pfeil.
Er legte ihn an. Dann zielte er nicht auf sie, sondern auf Audric.
Rielle rief Audric zu, wegzugehen, und trieb Maliya an, um zwischen ihn und den Schützen zu gelangen.
Maliya machte ein paar unsichere Schritte, und schließlich gab unter Rielle etwas nach. Sie blickte nach unten. Ihr Pferd war ein wunder, fleischiger Haufen – blutüberströmt, Teile seines grauen Fells verkohlt und qualmend.
Das Entsetzen traf Rielle wie ein Schlag in den Bauch. Sie ließ die Zügel fallen und lehnte sich auf dem Sattel zurück. Sie musste von diesem schrecklichen Tier unter ihr wegkommen. Woher stammte es überhaupt?
Maliyas Kruppe sackte erst weg und bäumte sich dann noch ein letztes Mal auf. Rielle fiel unsanft auf die Seite. Hektisch kroch sie davon und krallte sich in die Erde, um wegzukommen.
Ein weiterer Pfeil des Attentäters aus Borsvall – doch weder auf Rielle noch auf Audric gerichtet. Der Pfeil traf Maliya zwischen den Augen; ihr Gebrüll verstummte. Dampfend blieb ihr Kadaver liegen.
Rielle kauerte sich auf den Boden, den üblen Geruch von Maliyas verbranntem Fleisch in der Nase. In ihren Gedanken suchte sie noch immer nach Audric, doch als sie versuchte aufzustehen, wollte ihr Körper ihr nicht gehorchen. Mühsam hievte sie sich hoch und würgte. Sie war ganz von Schmutz und Blut bedeckt – von ihrem eigenen und dem von Maliya.
Das Klirren von Metall auf Metall dröhnte durch die Luft. Schwerter.
Audric.
Verzweifelt suchte Rielle mit schwindender Sehkraft nach einer Waffe, irgendetwas, was die Männer aus Borsvall fallen gelassen hatten. Selbst ein Stein würde schon genügen.
Oh, Gott steh ihr bei, das arme Pferd.
Was hatte sie getan?
Sie wischte sich die blutigen Hände an ihrem Hemd ab. Die Erde bebte noch immer, als marschierte eine Armee von zehntausend Männern auf die Hauptstadt zu.
»Hör auf«, flüsterte sie, denn sie wusste, es war alles ihr Werk – das Pferd, die herabstürzenden Felsen, die Risse in der Erde.
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