Auf diese vielfältigen, sich schnell wandelnden wie widersprüchlichen Anforderungen haben Universitäten organisational wie kommunikativ eher unbewusst denn bewusst reagiert: zuerst mit vielen neuen Angeboten und Formen der direkten Ansprache, also dem Einbezug von Zielgruppen, sodann mit individualisierten Partizipationsangeboten (Open Science). Im Ergebnis heißt das: Die Universität wird zunehmend vergesellschaftet (vgl. Loprieno, 2016). 21
Die segmentäre Differenzierung hat Wertevielfalt wie -streit, soziale wie kulturelle Pluralität und ein steigendes Maß an Individualismus zur Folge. Alle dominanten Intermediäre haben an Bündelungsfähigkeit wie an Aggregations- und Durchsetzungsmacht verloren. Vor allem haben sie ihre bislang weitgehend anerkannte Selektionskompetenz eingebüßt: Ihre Entscheidungs- wie Beglaubigungsprogramme und Expertendeutungen (Peer-System) sind umstritten, lösen keine starke Folgebereitschaft mehr aus. Das Gottvertrauen schwindet, das Selbstvertrauen wächst. Ob Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer oder Professorinnen wie Professoren, also alle Amts- und vormaligen Respektspersonen, müssen sich immer wieder neu beweisen, müssen direkt, immer wieder neu überzeugen. 22
Folgen des Medienwandels kommen hinzu: Die Massenmedien berichten in allgemeiner, aber nicht in spezifischer Form über den gewachsenen Hochschulsektor wie das Wissenschaftssystem und über das dort gewonnene Wissen, das sich zudem massiv erweitert hat. Experten- wie Wissensexplosion: Wissenschaftseinrichtungen produzieren und kommunizieren immer mehr Daten, Befunde usw. – doch die können immer weniger in den Massenmedien verarbeitet und verbreitet werden. Zudem: zu viel Wissen, zu spezielles Wissen. Open Data als Lösung? Das reicht wohl kaum aus. Open Science? Wer und was kann erreicht werden?
Doch: Allgemeine Vermittlung bleibt relevant. Durch die vor gut zehn Jahren beginnende Medien- wie Journalismusfinanzierungskrise haben sich die Vermittlungschancen durch Dritte verringert, die Wissenschaftsberichterstattung wird reduziert. Die Universitäten haben auf diese Entwicklung mit eigenen Maßnahmen reagiert und ihre kommunikativen Aktivitäten erhöht. Übrigens mit Folgen, so für den (Wissenschafts-)Journalismus.
Eine Folge der schwächelnden Intermediäre ist: Universitäten können sich nicht mehr hinter den Intermediären, so den politischen Parteien, verstecken, sie sind direkt angesprochen. Zahllose Gruppen, Grüppchen, Akteure wie Milieus sind neben den etablierten gesellschaftlichen Akteuren entstanden. Dort werden Interessen formuliert, ausgehandelt und zu Issues entwickelt. Dabei nimmt man auf Expertinnen und Experten wie Wissen Bezug. Wissen in jeglicher Form ermöglicht nämlich Differenzmarkierung. Mit Wissen kann man Interessen zur Geltung bringen und versuchen, Durchsetzungsmacht zu erlangen. 23Man sucht vielfach nach den opportunen Zeugen, so auch an Universitäten wie in Wissenschaftsorganisationen.
Nicht erst seit dem Internet und Social Media sind diese Gruppen wie Wissensgemeinschaften vorhanden, doch nun sind sie sichtbar, für viele beobachtbar und schlagkräftiger geworden. Unterhalb der Massenmedien gab es ein breites Segment an Medien, in denen Interessen wie Wissen verhandelt wurden. In den zahlreichen Publikumszeitschriften, in Spezial- wie Fach- oder Verbandszeitschriften, in den Organen der zahllosen NPOs wie NGOs fand und findet eine dichte Binnenkommunikation statt, in der man auch auf wissenschaftliche Befunde Bezug nimmt. Ob Luftgrenzwerte, Impf- oder Ernährungsfragen – darüber gab es Austausch. Der fand in Zeitschriften statt und wurde von Fachjournalistinnen und -journalisten begleitet. Von dort gelangten Themen wie Positionen in die Massenmedien und somit in die allgemeine Öffentlichkeit. Es mussten also allerlei Zugangs- wie Selektionshürden übersprungen werden. In der allgemeinen Öffentlichkeit kam dominant nur das vor, was es in die Massenmedien geschafft hatte. Das waren hierarchische Prozesse. Internet und Social-Media-Plattformen sind ohne Filter. Sie haben die kommunikativen Möglichkeiten massiv erweitert und verändert. Nicht journalistische Profis, sondern Interessenorganisationen wie Einzelne wählen aus, leiten weiter, können potenziell die Gesamtgesellschaft direkt erreichen. Wir erleben derzeit, was auf Plattformen alles diskutiert, bestritten oder zustimmend beglaubigt werden kann. Wir erleben die Stärke von Kampagnen, so shit storms, gegen Einzelne. Fake news sind zwar nur ein Schlagwort, das aber immer mehr in den medialen Sprachgebrauch eingedrungen ist. Und wir erfahren, wie gegen Beglaubigungsinstanzen und -verfahren, gegen Befunde wie Erkenntnisse, gegen Eliten und auch gegen die sogenannten «Systemmedien» wie die «Lügenpresse» agiert werden kann. Wenngleich diese Phänomene nicht in allen europäischen Ländern auszumachen sind: Die Problematik ist ähnlich.
4Medien- und Öffentlichkeitswandel als weitere Herausforderung für die Hochschulen
Mit dem Internet und den Social Media wird es – vierte These – zu einem beschleunigten Medien- wie Öffentlichkeitswandel kommen, der die institutionelle Grundordnung der gesellschaftlichen Kommunikation wie aber auch die Öffentlichkeit grundlegend verändert. Die Social Media sind Ausdruck, Beschleuniger wie Katalysator der segmentären Differenzierung. Mit Folgen auch für die Universitäten wie Wissenschaftsorganisationen.
Das Wissenschaftssystem, und somit auch die Hochschulen, wird nun noch mehr mit den Folgen der segmentären Differenzierung zu kämpfen haben. Social Media geben der segmentären Differenzierung Ausdruck wie Form. Die vielfältigen Maßnahmen in der Kommunikation, die Open-Initiativen sollen nun helfen. Doch: Ist es eine bewusste Reaktion?
Es ist zu beachten, dass von diesen Herausforderungen nicht allein die Hochschulen betroffen sind, sondern auch die Institutionen der Politik. Also jene Instanzen, die die Bedingungen für Lehre und Forschung festlegen. Die staatlich-institutionelle Politik hat sich bereits zurückgezogen und zum Teil gesellschaftlichen Kräften Raum gegeben (Universitätsräte). Für die Hochschulen bedeutet dies, dass sie die durch segmentäre Differenzierung ausgelösten und durch die digitalen Medien verstärkt auftretenden direkten Anforderungen an sie weniger denn je aus dem Hintergrund, gleichsam mit den politischen Akteuren an der Spitze oder im Schutz des Staates und begleitet von den Massenmedien, werden bewältigen können. Die Beziehung zwischen Hochschulen und Gesellschaft war lange Zeit, eben zu Zeiten starker Politik, eher mittelbar, nun wird sie mehr und mehr unmittelbar, direkt und dynamisch. Von der sozialen Disruption, ausgelöst von den digitalen Medien, bleiben die Universitäten nicht verschont. Die Legitimationsbeschaffung für die Wissenschaft, und damit auch für die Hochschulen, erfolgt aufgrund des Medien- und Öffentlichkeitswandels, nicht mehr dominant und allein über das politisch-administrative System mit seinen Akteuren. Die Zeiten des Korporatismus alter Schule sind vorbei.
Das Wissenschaftssystem wie das politische System sind elementar von den Folgen der segmentären Differenzierung, die Formen einer fluiden Beständigkeit (Schwarmlogik) hat, betroffen (vgl. dazu Kersten, 2017). Hochschulen müssen, wenn sie politisch Zustimmung erhalten und damit Ressourcen erlangen wollen, sich bei Politik wie Gesellschaft selbst kommunikativ bemühen. Das erklärt den Anstieg an Kommunikationsaktivitäten, den beständigen und zunehmenden medialen Schönheitswettbewerb von Universitäten. Es geht um staatliche wie private Mittel, es geht letztlich um institutionelle Legitimität.
Legitimität aber wird durch Fremdreferenz erzeugt, und hier sind publizistische Medien – sei es in Form der Massenmedien wie auch in anderer Form – maßgeblich: Journalistinnen wie Journalisten wählen aus, sie berichten und fokussieren, und durch sie erhalten soziale Ereignisse Relevanz. Der Einbezug von politischen, kulturellen, ökonomischen Entscheidungsträgern wie auch der Bürgerinnen und Bürger in das Universitätssystem erfolgt maßgeblich über Medien. Deshalb ist Medienarbeit, deshalb ist die Präsenz in den Medien zentral – weniger die Präsenz wie das Eigenlob auf der eigenen Homepage oder in der Imagebroschüre. Die Erhaltung von Fremdreferenz, trivialer gesagt: die Existenz unabhängiger Medien und eines qualitativ hochwertigen (Wissenschafts-)Journalismus ist für das System Wissenschaft wie für die Hochschulinstitutionen von existenzieller Bedeutung.
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