Obige Befunde passen auch gut zur evolutionsbiologischen Erklärung kindlicher Entwicklung, nach der das Spiel in einer natürlichen Umgebung den Kindern Vorteile im Bereich späterer überlebensnotwendiger Fähigkeiten verschafft, zum Beispiel im Bereich der körperlichen Fitness und der motorischen Koordination (Bewegungsspiele), im Bereich der Kampf- und Dominanzfähigkeiten (Raufspiele) und im Bereich von sozialen und theoretischen Denkfähigkeiten (Phantasie- und kooperative Spiele) (Pellegrini et al. 1998). Spielen wäre demnach vor allem bei Arten verbreitet, die eine lange Reifezeit haben und in variablen und instabilen Umwelten leben und somit ein flexibles Verhaltensrepertoire benötigen. Durch das Spielen werden Tätigkeiten nachgeahmt, um potenzielle Lösungen auf ein noch nicht aufgetauchtes Problem vorzubereiten (Pellegrini et al. 2007). Diese biologisch primären Fähigkeiten («biologically primary skills») – so die Argumentation – würden durch das Freispiel natürlicherweise genügend gefördert, sofern ausreichend Zeit und Raum zur Verfügung steht. In einer modernen kulturellen und gestalteten Umwelt ist jedoch der Erwerb zusätzlicher Kulturtechniken und Fähigkeiten («biologically secondary skills») notwendig. Dafür benötigen Kinder Unterweisung und Instruktion. Das Freispiel ist also weniger effektiv, wenn es gilt, ein Lernziel zu erreichen. (Toub et al. 2016) (siehe Tabelle 1).
Tabelle 1Biologisch primäre und sekundäre Fähigkeiten nach Toub et al. (2016) und Weisberg et al. (2018)
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Spielform |
Beispiele |
Biologisch primäre Fähigkeiten wie Motorik, Kommunikation, soziales Handeln usw. |
Freies SpielInitiative, Auswahl, Steuerung durch das Kind; passive Angebotsstruktur |
Bewegung im Raum (Körperbeherrschung, Springen, Laufen, Raufen), Verhandeln, Kompromisse schliessen, Perspektivenwechsel |
Biologisch sekundäre Fähigkeiten wie mathematische, musikalische, sprachliche Muster; Gesetzmässigkeiten |
Geführtes SpielInitiative durch Erwachsene; Auswahl, Steuerung durch das Kind; aktive Angebotsstruktur |
Suche nach Zahlenmustern, Regeln der Sprache, Zusammenhänge in der Natur und Kultur |
Demnach wird zwischen biologisch primären Fähigkeiten, die Kinder in vormodernen Gesellschaften durch Nachahmen und spielerisches Wiederholen im freien Spiel meist selbständig und beiläufig erwerben, und biologisch sekundären Fähigkeiten unterschieden (Toub et al. 2016, S. 121 ff.; Weisberg et al. 2018). Argumentiert wird dabei mit dem Verweis auf die Jäger-Sammler-Gesellschaft. Dies ist leider aber weitgehend Spekulation, da wir nur wenig über die sozialen Bedingungen menschlicher Existenz vor 10 000 Jahren wissen. Spielen setzt immerhin voraus, dass Menschen in relativ sicheren Verhältnissen leben (Pellegrini et al. 2007). Ob das unter eiszeitlichen Bedingungen der Fall war, darüber wissen wir wenig. Aber Spielen hat sicher dazu beigetragen, dass ein Verhaltensrepertoire für unvorhergesehene Situation elaboriert wurde, da Spiel zwar bestehendes Verhalten nachahmt, aber auch im Sinne der «variety of routines» (Pellegrini et al. 2007, S. 269) moduliert. Die Instruktion und das Lernen durch Nachahmung hat demnach den Nachteil, dass diese Strategien rein konservativ und damit wenig innovativ sind. Spielen im Sinne der Verhaltensmodulierung ermöglicht spontane Rekombinationen von altem Verhalten zu neuen Varianten (Pellegrini et al. 2007, S. 267).
Geht es jedoch darum, dass Kinder bestimmte biologisch sekundäre Fertigkeiten erlernen sollen, etwa Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, mathematische und naturwissenschaftliche Gesetzmässigkeiten sowie Musik und Malerei, dann ist das inzidentelle Lernen bzw. das freie Spiel nicht besonders lernwirksam (siehe Alfieri et al. 2011; Mayer 2004). In diesem Fall sind Materialangebot, Strukturierung, Impulse und die Begleitung durch Erwachsene erforderlich.
Dieser Argumentation folgend, lässt sich festhalten: Auch wenn unsere Umwelt immer mehr durch menschliche Eingriffe gestaltet und gezähmt wird, lernen Kinder auch heute noch grundlegende Fertigkeiten im freien Spiel. Durch dieses freie Spiel werden aber nicht alle erforderlichen Kompetenzen unserer Gesellschaft gefördert. Deshalb sind gezielte Interventionen der Erwachsenen als Ergänzung von Bedeutung. Das Gegensatzpaar «play ethos» versus «direkte Instruktion» als Gegensatz («dichotomy») bringt das Dilemma zwar auf den Begriff, trägt aber nichts zu einer Lösung bei. (Nicolopoulou 2013; Toub et al. 2016; Weisberg et al. 2016; Stipek et al. 1995). Dass Kinder unter spielerischen Bedingungen effizient lernen und frühe Instruktion einem fade-out-Effekt unterliegt, ist nur zu gut bekannt. Seit 10 Jahren wird in der Forschungsliteratur deshalb das spielerische Lernen (playful learning), – also die Verbindung zwischen Spielen und Lernen als eine Kombination aus freiem und angeleitetem Spiel, diskutiert. Dabei spielen die von Erwachsenen gestalteten Spiel- und Lernumgebungen eine zentrale Rolle.
Für die theoretische Debatte wie auch für die praktische Arbeit mit Kindern benötigen wir daher keine Dichotomie von Spielen und Lernen, sondern ein Modell des Spielens, als Kontinuum, welches den systematischen Übergang wie auch die Kombination verschiedener Spiel- und Lernformen darstellt. Das spielerische Lernen umfasst demnach nicht mehr nur freies Spiel, sondern auch begleitetes oder geführtes Spiel, Regelspiele und Lernspiele (Hirsh-Pasek 2018).
5 Statt Gegensatz zwischen Spielen und Lernen: Spielen als Kontinuum
Im Gegensatz zur Unterscheidung zwischen Spiel und Nichtspiel und zwischen freiem Spiel versus Instruktion, richtet sich der Blick neu auf das Spiel als «Kontinuum» (Zosh et al. 2018). Das vom «play ethos» befeuerte Klagen über das Verschwinden des Freispiels oder gar das «Verschwinden der Kindheit» kann nun durch einen produktiven Diskurs über die verschiedenen Arten des Spiels zum Verstummen gebracht werden. Das Kontinuum ( Tabelle 2) ermöglicht es, Spielen als verschiedenartige Tätigkeit von Kindern zu verstehen und zu beschreiben. Es ermöglicht auch, dass spielerische und instruktive Elemente kombiniert und abwechslungsweise in den Lernprozess eingebettet werden. Das Kontinuum ist darum nicht von links nach rechts als entwicklungspsychologisches Aufbauprogramm zu verstehen. Es mag aber helfen, den Übergang vom spielbasierten zum systematischen Lernen angepasster zu gestalten.
Unter Initiierung wird «in die Wege leiten» verstanden. Konkret bedeutet das, dass die Erwachsenen eine Umgebung beziehungsweise einzelne Spielangebote für die Kinder vorbereiten. Im freien Spiel hingegen beschäftigen sich die Kinder mit der vorhandenen Umgebung und dem Material, das sie vorfinden und das nicht speziell für sie vorbereitet wurde. Unter Steuerung wird die inhaltliche Steuerung des Spielprozesses verstanden und die freie Wahl gibt an, inwiefern diese gegeben beziehungsweise eingeschränkt ist. Im geführten Spiel (z. B. die Spielsequenz im Kindergarten) wählen die Kinder zwar selbst aus, was sie spielen möchten, aber die Lehrperson kann die Auswahl des Angebotes durch die Initiierung der Lernumgebung beliebig einschränken. In Lernspielen (z. B. vorgegebene didaktische Spiele oder spielerische Einheiten in geführten Sequenzen, wie Sing- und Kreisspiele) ist die Wahlfreiheit jedoch nicht gegeben. Die Reihenfolge der einzelnen Abstufungen (Kontinuum) vom freien Spiel bis hin zur direkten Instruktion bildet die Intensität der Steuerung des Kindes von aussen (z. B. durch die Lehrperson) beziehungsweise die Involviertheit von Erwachsenen ab. Will heissen: je stärker Lernziele im Fokus stehen, desto stärker ist die Steuerung von aussen. Kinder erreichen im geführten Spiel mit grösserer Wahrscheinlichkeit ein spezifisches Lernziel als Kinder, die im Freispiel verweilen. Es gibt auch einige Hinweise, dass bei jüngeren Kindern das geführte Spiel der direkten Instruktion überlegen ist (Weisberg et al. 2018; Hauser et al. 2014). Für die Förderung von schulischen Inhalten wäre demnach eine Verbindung zwischen dem natürlichen Verhalten von Kindern («Lerntrick der Natur»), dem Spielen, und dem lernzielorientierten Erwerben von Wissensbeständen hilfreich (Kübler 2015). Dies erfordert eine Kombination von spielerischem Lernen (das den Kindern Autonomie und Selbststeuerung zugesteht) und zielgeleitetem Lernen (welches eine von Erwachsenen vorbereitete Lernumgebung und eine entsprechende Spielbegleitung vorsieht) (Weisberg et al. 2016). Die bewusst inszenierte Verbindung von Spielen und Lernen, um das Erreichen von Lehrplanzielen wahrscheinlicher zu machen, scheint vielversprechend. Damit ist in keiner Weise das häufig in der Schule praktizierte Spielen gemeint, das lediglich als Entspannung in den Pausen dient. Sondern der Einsatz des Spiels als Lernform, die neben anderen wirksamen Lernformen wie etwa Lernen durch Beobachtung, Versuch und Irrtum, Exploration sowie Instruktion bestehen soll (Crowley 2017).
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