Der Handel mit solchen Fotos war allerdings auch sechsundsechzig Jahre nach dem Krieg immer noch nicht unproblematisch, da die Abgebildeten – und nicht selten auch deren Nachkommen – wenig Wert darauf legten, dass von ihren Verbrechen etwas bekannt wurde. Man hatte sich die Weltkriegszeit schön gelogen, viele hatten es nach geraumer Zeit sogar selbst geglaubt, dass sie lediglich Mitläufer waren und niemandem etwas Böses angetan hatten. Nur unter vorgehaltener Hand kam der Zusatz, zumindest niemandem, der es nicht verdient gehabt hätte.
Die Schmuckstücke der Sammlung aber waren die Fotos vom Obersalzberg. Der alte Harrt war nämlich in den letzten beiden Jahren zur Leibwache Hitlers abkommandiert worden. Rund ein Dutzend Bilder zeigten den Führer in der idyllischen Alpenlandschaft.
»Hitler hat rund ein Drittel seiner Zeit als Diktator auf dem Obersalzberg verbracht«, dozierte von Taubenberg. »Das muss man sich vorstellen. Ein Mann erklärt der Welt den Krieg und spaziert über blühende Almwiesen.«
»Während seine Leute in Russland verrecken«, ergänze Harrt. »Ich war selbst mal dort, hab mir alles angeschaut. Dieser Dreckskerl schlief bis Mittag, aß gemütlich seine Gemüsepfannen und dann ging er mit seinem Schäferhund Blondi und seiner Eva spazieren. Unglaublich, der selbst ernannte größte Feldherr aller Zeiten war die größte Schnarchnase aller Zeiten.«
»Wahr, wahr. Andere Welteroberer waren da aus ganz anderem Holz geschnitzt. Napoleon wurde einmal bei einer Schlacht der Zeh weggeschossen und er verlangte nur nach einem neuen Stiefel. Oder nehmen Sie Alexander den Großen. Der kämpfte immer an vorderster Front. Einmal übersprang er sogar eine Stadtmauer, ohne auf seine Mitstreiter zu warten und sah sich einer Übermacht von Feinden gegenüber. Aber …«
»Bitte keine Geschichtsstunde«, unterbrach Harrt die Ausführungen des Militariahändlers. »Lassen Sie uns beim Geschäftlichen bleiben.«
Dann feilschten die Männer über den restlichen Nachlass des Obersturmbannführers Karl Friedrich Harrt. Man einigte sich auf 22.000 Euro und regelte die Zahlungsmodalitäten.
»Aber eine Frage hätte ich da noch, Herr Harrt«, hob von Taubenberg an, als der Deal bereits beschlossen war. »Wie ich aus gut unterrichteten Kreisen erfahren habe, besitzen Sie noch ein besonderes Stück, ein Stück, das Sie mir vorenthalten haben.«
Albert Harrt stutzte. Er wirkte irritiert, tat aber so, als wüsste er von nichts.
»Ich habe Ihnen alles gezeigt«, behauptete er. »Was für ein Stück soll ich denn noch besitzen?«
»Ein besonderes. Ein Stück, das Ihr Großvater von Hitler kurz vor Kriegsende bekommen haben soll, ein Stück, um das sich viele Legenden ranken.«
»Tut mir leid«, Harrt zuckte mit den Achseln, »davon weiß ich nichts.«
Du Bastard lügst doch wie gedruckt, aber dir werde ich die Würmer schon noch aus der Nase ziehen, dachte sich von Taubenberg, als er das Führerzimmer verließ. Von dem Braten schneide ich mir eine Scheibe ab.
Jens Neureuther war ein Gemütsmensch. Nichts konnte ihn leicht aus der Ruhe bringen. Geduld, diese bisweilen fast unmenschliche, weil den Affekten und Leidenschaften widerstrebende Tugend, hatte er im Überfluss. Sicher, für seinen Beruf war sie unabdingbar. Denn Jens Neureuther war Logopäde. Und die Heilung von Sprachstörungen aller Art verlief meist langsam und zäh. Als Weinbergschnecke, die sich zu einem Marathon aufmachte, so sah Neureuther viele Patienten und ihren langen Weg, wenngleich er sehr wohl wusste, dass die schlimmsten Fälle nie ihr Ziel erreichen würden, die Schlaganfallpatienten beispielsweise, die unter völliger Aphasie litten.
Kemal Üzli dagegen machte Fortschritte. Er hatte seine Sprachstörungen bereits mehr oder weniger überwunden. Nebensätze kamen ihm wieder problemlos über die Lippen, auch einmal etwas verschachtelte Sätze und das eine oder andere Bonmot. Nur Geduld musste man mit ihm haben und ein gutes Ohr, denn Kemal sprach ausgesprochen langsam und leise. Hier setzte Neureuther an.
Insgesamt war Kemal freilich ein Musterpatient, der dem Logopäden zeigte, wie sinnvoll und fruchtbar seine bisweilen so mühselige Arbeit sein konnte. Doch an diesem Vormittag stutzte Neureuther, als er Kemal sah. Es waren nicht nur die offensichtlichen Hinterlassenschaften einer Schlägerei, die ihn beunruhigten. Sein Patient wirkte fahrig und nervös, so nervös, dass er das Verb an die falsche Stelle setzte oder nach Wörtern rang, was ihm lange schon nicht mehr passiert war.
»Kemal, was ist los mit dir?«, fragte Neureuther mit seiner sonoren, beruhigenden Stimme.
Der leidenschaftliche Kickboxer schluckte. Man sah ihm an, wie er sich die Worte zurechtlegte, bevor er sie aussprach, genauer genommen aushauchte, so leise war er an diesem Vormittag. Er berichtete dem Therapeuten von der Nachricht, er habe einen Mord gesehen, und der blutverschmierten Kleidung.
»Du musst zur Polizei gehen«, forderte ihn Neureuther auf. Er wusste, wie gewissenhaft Kemal war und dass dieser nicht leichtfertig oder gar, um anzugeben von einem möglichen Mord sprach.
»Traue ich mich nicht«, flüsterte Kemal und blickte zu Boden. »Kann rede nichts.«
»Das ist falsche Scham. Du kannst doch sprechen. Mit mir geht es doch auch.«
»Polizist aber …« Kemal schüttelte nur den Kopf.
Neureuther versuchte, seinem Patienten Mut zuzusprechen, doch es half nichts.
»Sie …«, Kemal richtete seinen Blick wieder auf, »Sie kommen Polizei.«
»Ich?« Neureuther blickte ihn erstaunt an. Dann nahm er seinen Terminkalender zur Hand und zeigte ihn Kemal. »Ich fürchte, ich habe keine Zeit. Siehst du? Ich bin den ganzen Tag verplant.«
»Noch ein Problem«, flüsterte Kemal, dem man anmerkte, wie schwer er sich jedes Worte aus den Rippen schneiden musste. »Hab bei Kampf verloren …«
»Na, das macht doch nichts. Ich weiß, du bist ein stolzer Kickboxer, aber trotzdem nicht unbesiegbar.«
»Nein. Habe verloren Geldbeutel. Mit Ausweis und alles.«
Neureuther dachte kurz nach und pfiff leise aus. Das veränderte die Situation natürlich. »Das heißt, dass der Mörder, wenn es denn einen gibt, vielleicht weiß, wer du bist.«
Kemal nickte.
»Und er hält dich für einen Augenzeugen?«
Kemal nickte wiederum.
»Dann lass uns gehen. Den nächsten Termin muss ich eben verschieben«, sagte Neureuther kurz entschlossen, stand auf und holte seine Jacke.
»Danke«, hauchte Kemal kaum vernehmbar.
Wer bei Föhn auf den Besucherhügel des Ostparks geht, dem bietet sich ein bizarrer Anblick. Einerseits genießt er ein grandioses, nachgerade erhabenes Alpenpanorama. Mit den Beinen noch in der Großstadt verwurzelt, sieht er von der Ferne, wie sich Berg an Berg reiht. Jedem Naturfreund wärmt dieser Anblick, auch wenn noch Schnee die Gipfel bedeckt, das Herz. Es erkaltet jedoch schnell, sobald er seinen Fokus auf den Vordergrund richtet. Dort reiht sich ein kahles, an Hässlichkeit kaum zu überbietendes Hochhaus an das andere und verbindet sich zur schlimmsten Betonwüste Münchens.
Neuperlach, in den Sechzigerjahren als größte Satellitenstadt der Bundesrepublik geplant, ist heute eine Stadt in der Stadt, die für rund 55.000 Menschen Platz bietet und als einer der größten sozialen Brennpunkte der bayerischen Landeshauptstadt gilt. So wenig erinnert hier an alle weißblauen Klischees, dass man den Stadtteil jederzeit in eine x-beliebige Großstadt verpflanzen könnte.
Hier wohnte auch Kemal Üzli. Er hatte ein kleines Ein-Zimmer-Appartement in der Nähe des Karl-Marx-Rings, nachdem er mit neunzehn, kaum hatte er sein Abitur in der Tasche, ausgezogen war. Parkplätze, das unterschied das Viertel auch stark vom Zentrum Münchens, gab es in weiten Teilen Neuperlachs genügend, so auch vor Kemals Mietshaus. In einer breiten Lücke konnte Jens Neureuther seinen roten und bereits ziemlich betagten Ford Fiesta bequem parken. Dann begleitete er Kemal in dessen Wohnung.
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