Manche mythischen Elemente in den Schriften spiegeln Denkweisen wider, die zu Lebzeiten und in der Umgebung des Buddha (im Indien der Eisenzeit) allgemein akzeptiert waren, heute aber nur schwerlich Geltung beanspruchen können. Sie stellen die Welt als Zauberreich übernatürlicher Mächte und körperloser Geister vor. Da gibt es Geschichten von Gesprächen des Buddha mit Göttern oder über die Beschwerde eines Baumgeistes, dessen Wohnung abgeholzt worden war. Wir lesen, der Buddha sei durch die Luft geflogen und mit gekreuzten Beinen über einem Fluss geschwebt, um einen Kampf zwischen zwei Armeen zu beenden. Ein andermal habe er sich nach einem Disput plötzlich in die Luft erhoben und sei fortgeflogen. Auch zum Tuschita-Himmel sei er aufgestiegen, um dort seine verstorbene Mutter das Abhidhamma – den dritten Teil des Palikanons – zu lehren.
Weitere Punkte sind in anderer Hinsicht problematisch. Eine besonders umstrittene Episode im Kanon betrifft die Entscheidung des Buddha, auch Frauen in die sangha, die klösterliche Gemeinschaft, aufzunehmen. Nach dem Bericht im Vinaya (dem zweiten Teil des Palikanons, der die Regeln für Mönche und Nonnen enthält), sträubte sich der Buddha zunächst, sie in der Sangha zuzulassen, bis sein Begleiter Ananda ihn fragte, ob Frauen denn dasselbe Potenzial zum Erwachen hätten wie Männer. Dies bejahte er, und dann stimmte er zu, sie aufzunehmen.
Früher mochte ich diesen Vorfall als ein Beispiel dafür, wie bereitwillig der Buddha sich von anderen überzeugen ließ – bis ich erkannte, wie naiv ich damit doch war. Zum einen werfen gewisse textliche Probleme Zweifel an der Faktentreue dieser Geschichte auf, zum Beispiel eine offensichtliche Diskrepanz zwischen dem Zeitpunkt der Aufnahme von Frauen – etwa fünf Jahre, nachdem der Buddha zu lehren begonnen hatte – und dem viel späteren Zeitpunkt, an dem Ananda zu seinem Begleiter wurde.
Erst ganz zuletzt wurde mir klar, dass Anandas Rolle vermutlich erst später in die Geschichte eingefügt worden war, und zwar als Mittel, um ihm die Verantwortung für die Zulassung von Frauen zu geben! Etliche Darstellungen im Palikanon sollen Ananda offensichtlich in ein schlechtes Licht rücken. Dazu gehört auch eine befremdliche Passage im Mahaparinibbana-Sutta, das von den letzten Tagen des Buddha berichtet. Mitten in einer klaren, eindeutigen Beschreibung seines körperlichen Verfalls und nahenden Todes tadelt der Buddha plötzlich Ananda, weil dieser die Tragweite einer Andeutung missachtet habe, die der Buddha unmittelbar zuvor gemacht hatte: Ein Buddha könne aufgrund seiner hoch entwickelten magischen Kräfte viele Tausend Jahre lang leben; Ananda habe diesen Hinweis nicht aufgegriffen und es versäumt, den Buddha nun genau darum zu bitten:
Daher liegt der Fehler bei dir, Ananda. In dieser Sache hast du versagt, weil du unfähig warst, den offenen Hinweis, den deutlichen Wink, den der Tathagata gegeben hat, zu begreifen, und dann hast du den Tathagata nicht gebeten zu bleiben. Wenn du das nämlich getan hättest, Ananda, dann hätte der Tathagata zweimal abgelehnt, beim dritten Mal aber hätte er zugestimmt. Darum, Ananda, liegt der Fehler bei dir; in dieser Sache hast du versagt.
Damit wir es auch wirklich verstehen, wird diese abstruse Kritik noch zweimal wiederholt. Andere Berichte zeigen, dass Mahakaschyapa, der Ordensältere, der nach dem Tod des Buddha offenbar die Führung der Sangha übernahm, ständig mit Ananda haderte. Darum ist es vielleicht kein Zufall, wenn manch eine Begebenheit im Palikanon anscheinend den Zweck verfolgt, Ananda in ein schlechtes Licht zu rücken.
Ich erwähne diese magischen Vorführungen und persönlichen Animositäten nicht, um die Lehren des Palikanons herabzusetzen, sondern um dessen Zuverlässigkeit hinsichtlich historischer Genauigkeit zu hinterfragen. Die Annahme, die ursprünglichen Ereignisse und Lehren seien dreihundert Jahre lang wortgetreu ohne Hinzufügung, Streichung oder »Klärung« weitergegeben worden, ist gelinde gesagt nicht plausibel. Sie passt auch nicht zu einem wesentlichen Unterschied zwischen mündlichen und schriftlichen Überlieferungen. Sobald ein Text schriftlich vorliegt, wird die Frage, ob eine Abschrift ihn genau wiedergibt, wichtiger und zugleich leichter zu beantworten. In den mündlichen Überlieferungen schriftloser Kulturen sind gewöhnlich verschiedene Versionen der wichtigsten Erzählungen im Umlauf, und es gibt keinen einheitlichen, kanonisch festgelegten Satz von Lehren, den die Praktizierenden anzunehmen und anzuwenden haben. Solange es keine Schriftfassung gibt, die das Wort fixiert, liegt alles Gewicht darauf, den Sinn zu vermitteln, und das erlaubt größere Freiheit im Ausdruck. Wie ein Lehrer oder eine Lehrerin ein Thema versteht, beeinflusst naturgemäß die Art der Darbietung. In mündlichen Kulturen beeinflusst dies unvermeidlich, wie die Lehren an zukünftige Generationen weitergegeben werden.
Die im Theravada übliche Betonung peinlich genauen Memorierens und Rezitierens lässt vermuten, dass es sich beim Palikanon um eine Ausnahme handeln könnte, doch diese Möglichkeit wird von den kürzlich entdeckten Gandhara-Schriftrollen auf Birkenrinde – den derzeit ältesten buddhistischen Manuskripten – nicht gestützt. Sie stammen aus der Zeit vom ersten Jahrhundert vor bis zum dritten Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung – dem Zeitraum, in dem man wahrscheinlich begann, die mündlichen Lehren aufzuzeichnen –, und die Schriftrollen sind unvereinbar mit der traditionellen Überzeugung, die definitive Fassung des Buddhawortes sei schon kurz nach seinem Tod im ersten Konzil (unter Leitung Mahakaschyapas) festgelegt worden. Obwohl die neuen Funde einiges vertraute Material enthalten, lassen die meisten ihrer bruchstückhaften Abhandlungen und Kommentare neue Züge der buddhistischen Literatur erkennen, die im Palikanon, wie wir ihn heute kennen, nicht eingeschlossen sind. Gelehrte des frühen Buddhismus haben die herkömmliche Grundannahme, alle buddhistischen Schriften und Schulen seien Äste ein und desselben Stammes, inzwischen mit dem Bild eines Zopfstroms ersetzt, dessen zahlreiche ineinander fließende Bäche nicht nur aus einer einzigen Quelle stammen. Der Übersetzer Richard Salomon zog daraus den Schluss, dass keine der vorhandenen buddhistischen Sammlungen früher indischer Schriften »Vorrechte als einzig authentisches oder ursprüngliches Wort des Buddha beanspruchen kann«.
Niemand mehr ist der Ansicht, es gebe einen ursprünglichen Kanon.
Oskar von Hinüber, Pali-Gelehrter
Halten wir diese differenzierte Auffassung des Palikanons im Sinn, wenn wir nun zur Frage zurückkommen, was der Kanon über Nirvana sagt: Transzendiert es diese Welt oder ist es dieser Welt immanent – oder ist es vielleicht etwas ganz anderes?
Eine der meist verbreiteten Umschreibungen von Nirvana ist »das Ende von Geburt und Tod«: Wer voll und ganz erwacht ist, wird nicht mehr geboren und sterben. Ein bekannter Abschnitt im Udana, einem der sogenannten »Kurzen Texte« des Palikanons, drückt es so aus:
Es gibt, ihr Mönche, ein Ungeborenes, ein Nicht-zum-Sein-Gebrachtes, ein Nicht-Gemachtes, ein Nicht-Geformtes. Wenn es, ihr Mönche, kein Ungeborenes, Nicht-zum-Sein-Gebrachtes, Nicht-Gemachtes, Nicht-Geformtes gäbe, dann könnte man keine Flucht aus dem erkennen, was geboren, zum Sein gebracht, gemacht, geformt ist. Weil es aber ein Ungeborenes, ein Nicht-zum-Sein-Gebrachtes, ein Nicht-Gemachtes, ein Nicht-Geformtes gibt, deshalb wird auch eine Flucht aus dem erkannt, was geboren, zum Sein gebracht, gemacht, geformt ist.
Eine andere Sammlung im Palikanon, das Itivuttaka, enthält dieselbe Passage und fügt einige Verse an, die diesen erhabenen Zustand ausdrücklich als glückselig beschreiben.
Das Geborene, Zum-Sein-Gebrachte, Geschaffene,
Das Gemachte, Geformte, Nichtbeständige,
Mit Verfall und Tod Verbundene,
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