Es ist, als ob ihm die Zeit durch die Finger gleitet. Jemand ruft laut seinen Namen. Sein Herz rast und zwischen den Herzschlägen schiebt sich in jeder Millisekunde eine Pause. Er war immer so ruhig und gelassen. Jetzt fühlte er sich urplötzlich so einsam und das trotz seines 100-köpfigen Expertenteams. Er ist der moderne Goldgräber in neuer Verpackung. Kaufen oder verkaufen? Das Aktienbarometer steigt nicht mehr. Die Stimmung ist frostig. Seine Mitarbeiter wirken wie Marionetten ohne eigenes Leben. Ihn umgibt eine sonderbare Stille. Augenblicke hüpfen vorbei wie Skispringer. Er möchte so gerne die Pausetaste drücken. Die Zeit anhalten. Aber dann würde die ganze Erde stillstehen.
LIGHT
SIE FÜHLT SICH WIE ROBINSON
TÖNE GLEITEN DURCH DIE NACHT
Isabella hat es sich geschworen. Dieses Jahr nimmt sie sich endlich die Zeit, Zeit für Gefühle. Sie ist schon im Sommerfeeling. In ihren Träumen sieht sie einen feinsandigen, zimtbraunen Strand, irgendwo auf einer Insel, vielleicht auf Mallorca, Menorca, Zypern, Sardinien. Das ganze Jahr Bikini-Wetter, der Puderzuckerstrand ist makellos. In den Lagunen glitzert türkisblaues Wasser, die Palmenblätter flüstern im Wind. Der Rest der Welt mit all seinen Sorgen ist weit, weit weg. Hinter dem Horizont. Deshalb ist eine Insel der ideale Ort, um zu lernen, im Moment zu leben, dachte sie sich. Das wichtigste Element immer vor Augen: das Wasser. Vergessen hat sie das WOHER oder das WOHIN. Sie steht auf, wenn die Sonnenstrahlen durch die Jalousien fallen und sie wachkitzeln. Sie fühlt sich wie Robinson. Frühstücken, was gestern noch an den Bäumen hing. Mangos, Ananas, Papayas. Sie spürt die Wärme der glutroten Sonne auf ihrer kaokaofarbenen Haut. Sie liest in den Wolken und entdeckt Schwärme tropischer Fische und gigantische Korallenriffe. Am Abend schlendert sie ziellos durch Palmenhaine und dörfliche Straßen. Ab und an streift ein feiner Duft die Nase, denn auf den erhitzten Steinen gart das Essen, das mit Palmblättern bedeckt ist. Sie entdeckt Süßkartoffeln, fangfrische Krustentiere und Fisch. Die Natur hält alles bereit. Sie schaut aufs Meer und in den Himmel. Die wahren Wünsche aus ihrem Innersten kommen an die Oberfläche und mit ihnen die Energie. Auf ihrem Gesicht erscheint ein Lächeln. Keine Uhr, kein Smartphone, kein Terminkalender – nur die Einfachheit des Seins. Und das Vertrauen in die Natur und in den Lauf der Dinge. Sie lehnt sich zurück und ist einfach glücklich. Farben mischen sich immer neu und schöne Körper vergnügen sich. Wind und Wellen sind wie Samt und Seide und kleine Schallwellen stranden. Isabellas Herzklopfen schallt ins Universum. Ein kurzer Blick – ein Lächeln – und dann auf gleicher Wellenlänge. Ihre Sinne applaudieren beim Meerblick ins Paradies. Am nächsten Abend entsteht knisternde Spannung. Vor ihr schweben Traumtänzer durch die tintenschwarze Nacht. Die Gischt glitzert wie tausend Diamanten und das Lachen flirrt durch die klare Luft. Tausende und abertausende Töne gleiten durch die Nacht. Hände zeichnen Worte in die Luft und um sie nur fröhliche Gesichter. Plötzlich Stille: Robinson lebt!
Julians Blick umkreiste sie wie ein Satellit den Planeten in einer ihm vorgegebenen Umlaufbahn. Mit einem engen schneeweißen Seidenkleid war sie gekleidet. Ihre schmale Taille konnte man durch den fragilen Stoff erahnen. Ihr blondes Haar bedeckte ihre schmalen Schultern. Wie eine vollkommen gebildete Statue stand sie da. All die Proportionen waren dem Meister perfekt gelungen. Sie war der lebende GOLDENE SCHNITT. Grazil ihre Bewegungen, fein ihr Lächeln, unbeschreiblich ihre strahlenden Augen. Sie schien ihn nicht zu bemerken. Dessen ungeahnt, begann Julian ihr in Gedanken Geschichten zu erzählen. Das Licht schimmerte durch den dünnen Stoff und ähnlich einem Wasserzeichen, die filigranen Muskeln freigebend. Wie ein Orchester im Gleichklang passte scheinbar alles, fügte sich alles zu einem makellosen Ganzen zusammen. Sie ist vollkommen auf ihre Weise. Selbst ihr Schatten verfügt über die gewisse Grazie. Ein Schwalben-Ballett flog Kunststücke in den Himmel, an dem eine einzige weiße Wolke dahinirrte, und Julian schenkte den Künstlern der Lüfte kurz seine Aufmerksamkeit. Heute würde es vielleicht geschehen. Er blickte in ihre azurblauen Augen und vergaß dabei die Zeit und den Raum um sich. Er wünschte sich ein Fest im Park. In den Zweigen der Bäume hingen Lampions und an den Kieswegen tanzten die Flammen der Fackeln. Eine kleine Combo spielte seine Lieblingslieder. Julian betrachtete in seinem Traum von weitem die scheren-schnittartigen Kellner, die den Gästen bunte Cocktails reichten. Spärliche kleine Lichter legten funkelnde Bänder auf die glatte Wasseroberfläche des Sees. Völlig synchron waren ihre Bewegungen. Ihr strahlendes Lächeln war so natürlich, ihre Lippen so vollkommen. Wie feinstes chinesisches Porzellan war ihre Haut, so glatt und fein. Seine Augen verloren sich in ihrer anmutigen Gestalt. Ihre grazile Erscheinung fesselten ihn von Anfang an. Sie bewegten sich auf den beleuchteten See zu wie zwei Models. Ein Traum aus tausend und einer Nacht. Sie versprüht förmlich ihr Charisma. Menschen um sie herum tanzen zum Takt der Musik, schaukeln hin und her, wie kleine Boote auf dem Wasser. Julian reiste mit seinem Blick an ihrer Silhouette entlang. Er befand sich auf einer Weltreise. In Augenblicken durchreiste er Wüsten, Meere, Inseln, neue Kontinente. Er atmete die exotischen Gerüche ein. Pfefferminz mischt sich mit Safran. Rosenöl und Zedernholz. Er hört das rhythmische Klatschen, die Töne der Trommeln. Sie schwebt vor seinen Augen. Mit ihren langen braungebrannten Beinen tänzelte sie im Takt der Musik. Er war fasziniert von ihrer Schönheit in jeder Sekunde. Er stand neben ihr und plötzlich kommt sie näher und näher. Mit jedem Schritt zeigt sich ihre wahre Schönheit. Dann steht sie vor ihm. Das Gewitter hat sich verzogen. Die Luft ist klar und riecht frisch. Julian blickt in ihre Augen. Er umarmt sie vorsichtig. Er berührt sie und fühlt die weiche Haut, wie zerbrechliches Porzellan. Sie erwidert seine Berührungen und lächelt. Ihre strahlend weißen Zähne blitzen im Sonnenlicht. Für den Bruchteil einer Sekunde spürt er ihre Energie, ihre Freude. Er küsst sie auf ihre sinnlichen Lippen, vorsichtig spürt er die zarte Haut. Er ist fasziniert von ihrem Charme. Wie ein überdimensionales Weltraumteleskop spürt er ihre feinen Botschaften. Sein Lebensfluss scheint für einen kurzen Moment zu stehen. Wie ein Equilibrist versucht er, die Balance zu halten zwischen ihm und ihr. Das dünne Seil entlangzugehen, ohne abzustürzen. Wann wird er sie wiedersehen? Wann wird er sie wieder spüren? Wann…
ABSOLUT(ION)
DIE STERNE VERBLASSEN LANGSAM
Kim sieht aus dem Fenster. Der Festplatz am Ende der Straße leert sich langsam. Nur vereinzelte Musikfetzen dringen durch das Glas in den Raum. Sie trägt ein figurbetontes lavaschwarzes Kleid und ein mandarinfarbenes Armband mit einer silbernen Kugel. Ihre ahornbraunen Locken fallen lässig über ihren Hals. Sie sollte eigentlich in Muskat sein. Dort ist es jetzt sieben Uhr morgens. Die Sterne verblassen langsam im Dämmerlicht. Skelettartige Hunde stöbern in den Mauerresten nach Essbarem. Schrill klingt es aus den Lautsprechern, denn der Muezzin ruft zum Morgengebet. Leichen liegen verstreut wie ausgelegte Köder auf den staubigen Straßen. Kurzfristig wurde der Flug annulliert. Jetzt hat es nach dem Jemen, Iran, Irak, Saudi-Arabien auch den Oman erwischt. Der IS weitet sich wie ein Krebsgeschwür aus. Wie schön wäre es in Muskat doch gewesen. Im „The Chedi Hotel“. Sie sah sich schon im 103 m langen Pool schwimmen und abends bei Sonnenuntergang den feinen Lobster im Strandrestaurant bei Kerzenschein verkosten. Kreischende Möwen, Sonne, surferglitzerndes, unendlich scheinendes Meer. Wie würde sie den kühlen Schatten der großen mächtigen Dattelpalmen genießen und sich unter dem sichelförmigen Dach sicher und beschützt fühlen.
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