THE UNPREDICTABILITY OF HAPPINESS
EIN SPIEL AUF LEBEN UND TOD
DIE EKSTASE IST FÖRMLICH SPÜRBAR
Schlaftrunken bringt Kimberley ihren makellosen Körper aus dem Bett. Sie dirigiert ihn vorbei an ihrem strahlend kaschmirweißen Traum aus Kleidern und Schuhen. Sie erinnert sich nicht an die letzte Nacht. Trotz ihres fotografischen Gedächtnisses hat sie keinerlei Erinnerung. Wo war sie und mit wem? Ihr Mund ist trocken wie Mondstaub. Über die Treppe gelangt sie in das offene Wohnzimmer. Es ist ein strahlender Sommertag. Das Sonnenlicht blendet sie, wie der Lichtbogen beim Schweißen von Stahlteilen. „After the Love has gone“ von Earth Wind and Fire schallt aus unsichtbaren Lautsprechern. Die Musik bringt ihre Erinnerung an den gestrigen Abend wieder zurück. Da war dieser gut aussehende Mann mit den grauen Schläfen und dem Dreitagesbart. Er lächelte ihr zu. Seine blauen Augen strahlten wie Bergkristalle. Er hatte eine unglaubliche Ausstrahlung. Nach schier endlosen Augenblicken sprach er sie an. Hätte sie da nur im Entferntesten erahnt, dass er ein absoluter Psychopath mit einem ausgeprägten Borderline-Syndrom ist. Ja, sie fand ihn im ersten Moment sehr interessant, vielleicht begehrenswert. Es war ein Spiel. Ein Spiel auf Leben und Tod. Er war unberechenbar, das wusste Kimberley. Könnte sie doch Gedanken lesen. Der Tag war noch jung und hatte doch seine Klarheit verloren. Dichte Wolken ziehen vorbei. Das Glück schien so nah und dann die nackte Angst. Sie konnte im Traum manchmal fliegen. Sie geht ihre skurrilen Geistesblitze nochmals durch. War alles nur Einbildung oder die harte Realität? Sie denkt darüber nach, dass man im Leben keinen Einfluss hat, zu wem man sich hingezogen fühlt, man kann sich hinterher einfach nur wundern. Er gab vor, Broker an der Wallstreet zu sein. Dann hat sie kein Wort mehr verstanden und ihn auch kurzzeitig nicht mehr gesehen. Er ist vom künstlichen silbernen Nebel auf der tennisplatzgroßen Tanzfläche verschlungen worden. Sie tanzen zwischen 100 äußerst jungen Skeletten mit teuren Markenklamotten auf ihrer Haut, die sich hinter ihren Designerbrillen verstecken, überwiegend weiblich. Die Musik des DJ mit Wahlheimat Mallorca dröhnt aus meterhohen Blackboxen. Irrwitzige Remixe laufen auf und ab. Funk, Soul und Groove wechseln sich mit Deep House ab und ergeben ein sich immer schneller drehendes Klangkarusell. Er dreht an den imaginären Reglern. Klangkaskaden fallen auf die sich immer schneller drehenden Figuren herab. Grelle Scheinwerfer tauchen alles in ein mystisches, unwirkliches Licht. Hände suchen irgendwo Halt in der aus Bewegung, Musik und süßlichem Duft bestehenden undurchsichtigen Bühne. Die Ekstase ist förmlich spürbar und überträgt sich auf die glatten schmucklosen Betonwände, deren unspektakuläres Grau alles zu verschlucken sucht. Die Bässe vibrieren in den Knochen, das Herz schlägt im 6/8 Rhythmus, wie nach der erfolgreichen Behandlung mit dem Defibrillator. Champagner spritzt wie Weihwasser auf die unheiligen Körper. Das Stroboskobgewitter wirkt dabei wie die Taube des Heiligen Geistes, der auf alle herniederfällt. Das Dickicht aus Körpern, Stimmen, Rauch und Musikfetzen lockert sich von Minute zu Minute. Da erscheint er wieder, der unsichtbare Fremde. Kimberley zögert eine Sekunde. Wägt ab und dann…
Seit langer Zeit hört er seine innere Stimme. Das Band im Kassettenrekorder ist auf Anfang gespult. Nun drückt Milan die Starttaste. M. verlässt das Haus schon lange nicht mehr. Das Versprechen vom admiralblauen Himmel liegt lange zurück. Der Tanz ins Licht. Die Welt da draußen ist eine einzige Show. Überbelichtet, das Negativ vom Positiv. Eine skurrile Welt, voll von scheinbarem Gold und kitschigem Plüsch. M. hat allmählich seinen Rhythmus gefunden, nicht zu schnell und nicht zu langsam.
Er balanciert auf dem Schwebebalken in eine neue Zukunft. Er versucht, allen Ballast abzuwerfen. Jeder Tag wird fein säuberlich eingeteilt in 24 gleiche Teile. Der Zeitraster nimmt seine Gedanken, seine Seele, seine Erinnerungen, seine Phantasie, seine Sehnsüchte, seine Freiheit auf. Zeitlos begrüßt er den Morgen, den Tag und die Nacht. Er schwimmt in einem Meer von Zeit – er taucht ab in die UHRzeit – er verschwendet seine LEBENSzeit – er erlebt die EISzeit, die FREIzeit. Er gerät in ein Labyrinth, das für ihn undurchsichtig, ja undurchdringbar ist.
Wie kam ich jetzt darauf? Ach ja, Lotterie des Lebens. M. ist überrascht von seiner irrwitzigen Comedy-Show. Er fühlt sich wie in einem Horror-Zirkus inmitten wilder Bestien. Zwischen Sex und Lametta, Freiheit und Abgrund. Er ahnt nur die Bilder von der Vergänglichkeit. In homöopathischen Dosen werden ihm die Worte verabreicht.
M. riecht den Duft des Regens. Die Regentropfen prallen auf die feuchte Erde und katapultieren die Moleküle in seine Nase. Die Tropfen zerstäuben schlagartig und bilden kleine Wasserwolken. Nun steht er da, als stiller Held mit Herzkammerflimmern. Was für ein Genuss es doch war, beschützt zu sein. Beschützt in sich selbst. In seiner Liebe, in seiner Euphorie. M. wähnte in jedem Tropfen eine Gefahr. Der Regen hat alles um ihn verwandelt. Kalt fühlt sich alles an. Er spürt jeden Tropfen auf seiner Haut, wie tausende kleiner Explosionen. Die Erde bebt im Sekundentakt. Wie im Phantomschmerz liegt er da, beklemmend still, verletzlich. Stimmen und immer wieder Stimmen. Er hat ein Blind Date mit seinem Leben. Einem Leben, dessen Verlauf einer geraden Linie glich, ohne viel Höhen oder Tiefen. Ein Leben, das allmählich zu verglühen drohte wie ein Kaminfeuer ohne den entsprechenden Sauerstoff. Er hat sich selbst verloren in seiner kleinen perfekten Welt. Solide, gesichert, das eigene Ich umkreisend, in einer unendlichen Umlaufbahn. Wie der Mond um die Erde zieht er seine Kreise, wirkt anziehend und abstoßend. Er fühlt den schwerelosen Raum, die Atemlosigkeit und die Angst, dass das Raumschiff Schicksal seine Träume, seine Vollkommenheit durchtrennt. Zufällig, ja manchmal willkürlich wirkte die Szenerie. War er an der Schwelle zu einer neuen Zeit angekommen, deren Ende er nicht kannte?
GOLD
SEIN INSTIKT IST GESCHÄRFT
Das blütenweiße Hemd sitzt wie maßgeschneidert. Ecos ebenmäßiges Gesicht wirkt nachdenklich. Auf seinem Weg ins Büro ziehen einige Szenarien mit 36 Bildern pro Sekunde vorbei. Im Büro angekommen, sieht er aus dem Fenster mit dem gigantischen Panoramablick. Die Stadt liegt vor ihm, mit all den Glasfronten, die das Licht wie ein Prisma brechen. Regenbogenfarben reflektieren zwischen den Gebäuden und verbinden die Solitäre wie durch ein magisches Band. Die Silhouetten überlagern sich in alabastergrauen Schattenflächen. Der granitgraue Himmel lenkt seine Aufmerksamkeit auf ganz neue Dinge. Sein Instinkt ist geschärft. Wie ein Hellseher nimmt er die imaginäre Glaskugel und blickt damit in die Zukunft. Er hatte bisher immer alles goldrichtig vorausgesagt und vorhergesehen. Immer war sein Kompass auf Süden gerichtet. Seine Konzentration wird durch das Lied aus dem Radio kurz gestört. „Don‘t be so shy“ , klingt es ihm entgegen. Er denkt einen kurzen Moment an Jennifer. Sie ist schön. Ganz sie selbst in seinen Gedanken. Er küsst ihre feuchten Lippen, streichelt ihre samtweiche Haut, er versinkt in ihr. Sie hebt leicht ihre muskulösen Arme und ihre Brüste ragen wie kleine Bergspitzen über ihr Dekolleté. Sein Handy meldet sich und er wird abrupt aus seinen Träumen gerissen. War nun der Tipp goldrichtig? Er checkt seine Mails und aktualisiert die Aktienberichte. Die Börse ist auf Talfahrt. Ging es doch lange immer nur bergauf. Man steigt an der Talstation nur in den Lift. Schon geht es bergauf ohne Mühe. Ecos Blick folgt dem Tragseil, das sich von Mast zu Mast spannt. Er gleitet mit dem Sessellift bequem über die Schluchten und die Schneisen, die sich wie Schlangen durch die Bäume schlängeln. Bunte Punkte wie in seinen unzähligen Diagrammen schwingen auf den schmalen weißen Bändern ins Tal. Im Zickzack bewältigen sie die kobaltblauen, die blutroten und pechschwarzen Pisten. Plötzlich ziehen Wolken auf und der Nebel wird dichter. Leere Sessel tauchen plötzlich aus dem Nichts auf. Endlich haben sie die Bergstation erreicht. Einzelne Schneeflocken tanzen gemütlich im ¾-Takt durch die kalte Luft. Ein letzter Blick auf das Profil des Hanges und dann stößt er sich kräftig mit seinen Stöcken ab und der Nebel verschlingt ihn.
Читать дальше