Wie uns die Geschichte aufzeigt, hatte die staatliche Repression des Wahns ihren Ursprung im »[…] Dekret der Gründung des Hôpital général in Paris [1656].« (Foucault 1969, S. 71) Diese Einrichtung spiegelte die monarchisch-bürgerliche Ordnung in Frankreich und eine Politik der Fürsorge den Armen gegenüber wider. Zum Ende des 18. Jahrhunderts wurden die ersten Irrenhäuser errichtet, denen neben dem Behandlungsauftrag eine Ordnungsaufgabe zugewiesen wurde (Foucault 1969). Die Aufseher sollten den Psychiater über die Kranken informieren. Mit Muskeln und Stärke, einer unerschrockenen Haltung, Rechtschaffenheit und lauteren Sitten waren sie für die Ausführung der Anordnungen des Arztes zuständig. In der Hierarchie den Aufsehern untergeordnet, waren es die Wärter, die mit besonderer Feinfühligkeit und Sauberkeit den Kranken auf einer Alltagsebene »umdrehen« sollten. Indem sie vortäuschten, dem Kranken zu Diensten zu sein, erhielten sie Kenntnisse über die innere Seite des Menschen. Das Wissen gaben sie an die Aufseher weiter, die dann den Arzt informierten. Die fraktionierten Aufgaben und Funktionen bildeten die innere Ordnung der Irrenanstalt und dienten gleichzeitig als Grundlage für das Machtsystem, welches darauf ausgerichtet war, den Irren zu beherrschen (Foucault 2005). Kontrolle und Überwachung stellten zentrale Aspekte der »Wahrheit« um die Behandlung der Irren dar. Die Aufseher und Wärter übernahmen diese Aufgaben. In diesem unverwechselbaren Tätigkeitsbereich erkannten sie sich selbst und wurden von anderen erkannt; sie wurden zum Subjekt und gleichzeitig zum Objekt und Gegenstand der Machttypen Disziplinarmacht und Körperpolitik, die auf die Bevölkerung und deren Lebensoptimierung sowie auf die Kontrolle über das Leben zielen (Foucault 1976).
Die diskursiven Praktiken führten also dazu, dass sich Pflegefachpersonen im Feld der psychiatrischen Behandlung mit der Funktion sozialer Regulierung identifizierten. Nicht das subjektive Erleben der Menschen, sondern die »Patienten« und deren Krankheit sowie beobachtbare Symptome wurden handlungsleitend, wofür es der Stimme des erkrankten Menschen nicht bedurfte (Weißflog 2014). Auch wenn Foucault gesamtgesellschaftliche Prozesse analysierte, die über Lebenswelten der Individuen hinausgingen, sehen wir die Wirkung der Prozesse und Praktiken in der Subjektivierung mit dem Einfluss auf die Lebenswelt, so wie sich die Individuen selbst wahrnehmen, an ihrem Denken und an ihren Handlungsweisen. Herr D. äußerte über weitere Gespräche an den nächsten Tagen: »Ich bin immer übersehen worden – erst als ich laut wurde, hat man etwas für mich getan.« An dieser Äußerung wird deutlich, dass der Diskurs durch die Macht reguliert und im Sinn ausgetragen wird.
»Wenn die Macht zur sozialen Existenz gehört, […] dann geht es nicht um Freiheit, sondern nur um lokale, temporare Befreiungen, also Praktiken, die eine lokale Machtbeziehung verändern, ihre Rationalität angreifen, untergraben, ihr die Grundlagen entziehen. Doch an die Stelle dieser Macht wird eine andere treten.«
(Demirović 2008, S. 58)
Eine Strategie des Widerstandes könnte zu einer temporären Befreiung führen, wäre aber letztlich nicht zielführend. Vielmehr scheint mir an dieser Stelle ein Ansatz der kritischen Haltung passender zu sein, den Foucault als »[…] die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden« (Foucault 1992, S. 12) 3 charakterisiert. Für Foucault ist der »[…] Entstehungsherd der Kritik im wesentlichen das Bündel der Beziehungen zwischen der Macht, der Wahrheit und dem Subjekt […].« (Foucault 1992, S. 14 f.) Er versteht unter der Kritik eine moralische und politische Haltung und eine Denkart. Das Subjekt nimmt sich das Recht heraus, die Wahrheit auf die Machteffekte und die Macht auf die Wahrheitsdiskurse hin zu befragen. Für Foucault ist die Funktion der Kritik die Entunterwerfung. (Foucault 1992) Folgen wir dem foucaultschen Gedanken, geht es um »[…] ein Denken der Transformation, der Metamorphose« (Foucault & Trombadori 1996, S. 32) und um eine Neuverteilung von Selbst- und Fremdregierung mit einem letztendlich emanzipatorischen Ziel. »Ein solches Unternehmen ist das einer Ent-Subjektivierung.« (Foucault & Trombadori 1996, S. 27) Die Auseinandersetzung mit und an sich selbst verfolgt das Ziel, dass »wir […] zu dem, um das es geht, in neue Beziehungen treten können.« (Foucault & Trombadori 1996, S. 29)
Meine Frage ist nun: Welche theoretische Grundlage ermöglicht die Entidentifizierung bzw. Ent-Subjektivierung der psychiatrischen Pflege als lokale Emanzipation? Wie wir seit Foucault wissen, ist nicht das Individuum/Subjekt die gesellschaftliche Substanz, sondern das gesellschaftliche Verhältnis (Demirović 2008). Folglich können wir die Transformation des Subjekts nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Verhältnissen behandeln. Auch wenn existierende gesellschaftliche Praktiken Veränderungen bedürfen würden, stellen sich gesellschaftliche Verhältnisse so dar, dass uns Kritik nicht möglich erscheint. Wir leben in einer empirischen Epoche – des Positivismus, der Objektivität und der Rationalisierung, die sich durch Vernunft auszeichnet. Das ist der allgemeine Rahmen meines Textes.
1.3 Diskurs gesellschaftlicher Verhältnisse
Die gesellschaftstheoretische Perspektive, mit der ich mich nun in Auszügen auseinandersetzen möchte, eröffnet uns auf der einen Seite eine Struktur der Standardisierung, Messbarkeit, Verifizierbarkeit und Verallgemeinerbarkeit. Wissenschaftliche Erklärungen, welche auf standardisierte Verfahren der empirischen Sozialforschung zurückzuführen sind, wie die randomisierte kontrollierte Untersuchung (RCT), die als »Goldstandard« betrachtet wird, versprechen den höchsten Evidenzgrad. Die Wirkungen von Interventionen sind an größeren Fallzahlen untersucht, das Studiendesign arbeitet mit einer Kontrollgruppe, die Zuordnung zur Behandlungsgruppe unterliegt dem Zufall und die Einflussnahme des Untersuchers ist ausgeschlossen. Das Untersuchungsergebnis belegt die aufgestellte Hypothese empirisch und die Aussage kann verallgemeinert werden. In der medizinischen Behandlung und gestützt auf naturwissenschaftliche Modelle müssen patientenorientierte Entscheidungen auf der Grundlage dieser empirisch nachgewiesenen Wirksamkeit getroffen werden. Die Behandlungsleitlinien geben den aktuellen Standard der Wissenschaft wieder. Ihre Empfehlungen sollen die Behandlungsqualität verbessern und Interventionen, die nicht durch Evidenz begründet sind, verringern (AWMF 2019). »Gute« psychiatrische Pflege möchte erkrankte Menschen auf dem Genesungsweg selbstbestimmten Handelns unterstützen. Dem entgegen stehen jedoch häufig Herausforderungen aufgrund von Phänomenen, die nicht immer einfach zu erklären und vorhersagbar sind. Um das alltagspraktische Handeln zu stärken, knüpft z. B. das Training der Alltagsfertigkeiten an den Voraussetzungen, Bedürfnissen und Wünschen der Menschen an. Auch wenn durch das Training die Symptomschwere positiv beeinflusst werden kann, sind die gemessenen Effekte auf die Verbesserung der Lebensqualität und auf die Behandlungszufriedenheit eher gering (AWMF 2019). Damit sind wir erkenntnistheoretisch bei einer Wahrheit, die eine subjektive Auffassung von Wahrheit nur zu einer bestimmten Zeit abbilden kann und bei einem guten Übergang zur zweiten Seite der gesellschaftlichen Perspektive.
Spätestens mit der Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre vollzog sich in Deutschland ein gesellschaftlicher Wertewandel von der Fügsamkeit zur Selbstbestimmung. Die Thematisierung der Individualisierung als Phänomen geht auf die soziologischen Klassiker der Jahrhundertwende zurück. Die stark kritische Begründungslinie führt zu den Arbeiten von Foucault. Eine weitere Argumentationslinie führt von Georg Simmel über Norbert Elias zu Ulrich Beck. Die Modernisierung der Gesellschaft führte nach Beck zu einer dreifachen Individualisierung:
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