Der Autor
Prof. Dr. phil. Manfred Gerspach lehrte von 1994 bis 2014 Behinderten- und Heilpädagogik am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Seit 2015 lehrt er als Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt/Main.
Manfred Gerspach
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-040776-3
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1 Warum Psychoanalytische Pädagogik?
1.1 Ouvertüre
Pädagogik ist Fallarbeit. Oder anders gesagt: die Arbeit am Fall strukturiert ihre Praxis. Es entspricht dem verständlichen Wunsch der dort tätigen Pädagog/innen in den verschiedenen Handlungsfeldern, zu wissen, was ›los‹ ist und was sie tun können oder sollen. Auf der einen Seite verheißen objektivierte Fallanalysen an Hand ihrer auf den ersten Blick eindeutigen Diagnose-, Klassifikations- und ergo Handlungsschemata, diesem Wunsch zu entsprechen. Am besten wäre es, wenn sich aus diagnostischen Datensätzen stringente Verhaltensmaßregeln herauslesen ließen. Auf der anderen Seite wissen die Pädagog/innen aber aus Erfahrung, dass eine solch zügige Umsetzung meist nicht gelingen will.
Burkard Müller hält es daher für besser, auf das »scheinbare Immer-Schon-Bescheid-Wissen« zu verzichten, weil das »Immer-Schon-Verstanden-Haben« das wirkliche Verstehen blockiert (vgl. Müller, B. 1994, S. 80 ff.). Erfolgreich wirkende pädagogische Angebote beruhen nicht auf der Umsetzung vorher gefundener Lösungen, sondern sie sind als Erkundungsprozess konzipiert.
»Es geht nicht darum, dort anzufangen, wo ich den anderen stehen sehe, sondern dort anzufangen, wo der andere mich stehen sieht: Bei den Erwartungen, Wünschen, Befürchtungen, die mir mein Gegenüber entgegenbringt, gerade auch bei den Erwartungen, die ich für illusionär halte und weder erfüllen kann, noch will« (vgl. Müller, B. 1994, S. 84).
Unterstellen wir z. B. einem Jugendlichen, noch bevor wir ihn kennen gelernt haben, ein gehöriges Gewaltpotential, so kann diese Vorannahme schnell zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. In einem solchen Fall kommt es vielmehr darauf an, genau zu registrieren, »was sich bei seinen Konflikten als ›ganz normal‹ erklären lässt«. Aber es wäre genauso fatal, wollte man die Wahrnehmung äußerst problematischer Verhaltensweisen als Alltagskonflikte beschönigen. »Da hilft nur: Aufmerksamer Umgang mit Nichtwissen« (vgl. Müller 1994, S. 87). Noch in den Anfängen der Sozialpädagogik etwa war diese von Müller kritisierte Lesart Standard. Da wusste man sogleich, »wer ›das Problem‹ hat: selbstverständlich der oder die KlientIn« (vgl. Müller, B. 1994, S. 89).
Einen Paradigmenwechsel zu vollziehen und das pädagogische Geschehen als intersubjektives zu begreifen, verlangt nach einem anderen Fallverstehen. Verstehen wollen heißt letzten Endes, »den eigenen Zugang zum Fall besser kennenlernen« (vgl. Müller, B. 1994, S. 84). Womöglich geht es mehr um die Selbstreflexion der eigenen Situation als die Reflexion der Situation des Gegenübers, aber immer das Erfassen des wechselseitigen Miteinanders. Ergo: Wer von Reflexion und Selbstreflexion spricht, meint »›Beziehungsarbeit‹« (vgl. Müller 1994, S. 14). Unter Aufdeckung der emotionalen und vor allem unbewussten Dimensionen der darin eingeschlossenen Aushandlungsprozesse wird offenbar, dass der Pädagoge/die Pädagogin als »neues Objekt gebraucht« wird (vgl. Treurniet 1996, S. 13). In einem solchen Dialog verändern sich nicht nur die Selbst- und Fremdwahrnehmung, sondern werden auch unsere Vorstellungen von Normalität und Pathologie verfeinert und korrigiert.
So einfach ist das alles nicht. Mit dem Wissen, dass das Verstehen immer kontextabhängig ist, verändert sich unsere Vorstellung der Bedeutung von Gesten, Worten und Verhaltensweisen, die in verschiedenen Situationen ganz Unterschiedliches meinen können (vgl. Wolff 1994, S. 45). Bedeutung zu finden heißt im dialogischen Sinne Bedeutung geben. Und letzten Endes zielt das Arbeitsbündnis zwischen Pädagog/in und Klient/in in seiner charakteristischen nicht-symmetrischen Gestalt auf ein gemeinsames »Hervorbringen der Bedeutung« (vgl. Treurniet 1996, S. 27). Treurniet hat seine tiefschürfenden Erkenntnisse auf den psychoanalytischen Prozess bezogen, in dem Analytiker/in und Patient/in »affektiv verstrickt« sind (vgl. Treurniet 1996, S. 18). Burkard Müller hat die Psychoanalyse als Methodologie eines Erkenntnisprozesses und pädagogische Anthropologie kenntlich gemacht und uns in vorbildlicher Weise die Anwendbarkeit ihrer Prinzipien »jenseits der Couch« vorgemacht (vgl. Müller, B. 1989, S. 121). Insofern ist die Nähe der Formulierungen von Treurniet und Müller nicht eben verblüffend. Auch Reiser zeigt sich da als Seelenverwandter, wenn er fordert, dass wir uns zunächst mit dem Kind verwickeln müssen, damit wir uns in einem gemeinsamen Dialog mit ihm aus seinem Störungsmuster heraus entwickeln können (vgl. Reiser 1993, S. 260).
Die Psychoanalyse ermöglicht uns mit ihrer besonderen Methode des Verstehens einen Zugang zum Subjekt, dessen Übernahme der Pädagogik große Dienste zu leisten vermag. Vor allem die Öffnung der Psychoanalyse hin zu einer intersubjektiven Perspektive hat mit der damit möglich gewordenen Fokussierung des Einflusses beziehungsdynamischer Faktoren auf die kindliche Entwicklung einen qualitativen Erkenntnissprung bewirkt, den wir uns jetzt zunutze machen können. Oder anders herum formuliert: Die Psychoanalyse ist da angekommen, wo die Pädagogik schon immer stand. Allerdings kann über die Anreicherung des genuin Pädagogischen mit Anteilen des spezifischen, aufs Sinnverstehen gerichteten Wissens und Könnens der Psychoanalyse ein großer Kompetenzzuwachs verzeichnet werden. Wenn wir Augen, Ohren und Verstand für das Unbewusste und der daran geknüpften Konfliktthemen öffnen, lässt sich eine viel differenziertere Entschlüsselung der Fallgeschichten bewerkstelligen, deren verborgene Seiten wir jetzt besser begreifen können. Das, was wir auf diese Weise verstehen, wirkt aus sich selbst heraus bereits entwicklungsfördernd. Gleichwohl kann die damit gesetzte Selbstverpflichtung, sich über die Eigenbeteiligung am pädagogischen Geschehen zu versichern, auch Ängste und Widerstände aktivieren, die die Hinwendung zur Psychoanalyse erschweren. Insofern kommt es auch darauf an, diese Impulse nicht zu diskreditieren, sondern auf behutsamem Wege Sympathie zu wecken. Wie das gehen mag, sei nachfolgend ausgeführt.
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