Javier und ich richteten uns in einer Art Routine ein. Er kam jeden Freitagabend nach der Arbeit zu mir. Wir gingen aus, schauten einen Film, hielten Händchen im dunklen Kinosaal, wir gingen essen, und wenn wir nach Hause kamen, liebten wir uns. Nach und nach fanden wir in den gemächlichen, gefühlvollen Rhythmus eines beinahe normalen Lebens. Samstags werkelten wir am Haus seines Onkels herum. Er hatte es geerbt, ohne Einwände von seinen Cousins – die weder das Geld brauchten noch irgendeinen Wert auf die Hinterlassenschaften ihres Vaters legten. Wir arbeiteten beide gern mit unseren Händen. Beide gehörten wir zu dieser Sorte Mann.
Sonntagvormittag nahm ich mir Zeit zum Schreiben, während er las. Nachmittags lasen wir uns abwechselnd die Lieblingspassagen aus unseren Lieblingsbüchern vor. Javiers Ansichten waren immer sehr durchdacht, aber er brachte sie mit solcher Heftigkeit vor, dass ich regelmäßig lächeln musste. Mit der Zeit begriff er, was mein Lächeln bedeutete, obwohl er anfangs geglaubt hatte, ich sei einfach gönnerhaft.
»Was bedeutet dieses Lächeln?«
»Nichts. Ich lächle. Ich höre dir zu und lächle.«
»Weil meine Gedanken nicht intelligent genug sind? Weil du sie amüsant findest?« Seine Stimme klang gereizt.
»Das bedeutet mein Lächeln nun gerade nicht.«
»Dann erklär es mir.«
»Nein.«
Aus irgendeinem Grund akzeptierte er das. Wir versuchten, etwas übereinander zu lernen, ohne zu viel zu erklären.
Einer wurde des anderen Lieblingsbuch. Beide waren wir verrückt danach, den anderen zu lesen.
Der Winter verzog sich, allerdings nicht kampflos. Er schien bleiben zu wollen, ergab sich aber schließlich dem Unabänderlichen. Veränderungen gehen mit Widerständen einher, sogar bei Jahreszeiten. Im Frühling wurde ich allmählich besessen von dem Roman, an dem ich arbeitete. Javier bekam zu lesen, was ich geschrieben hatte. Es gab nur eine Regel: keine Diskussion über den Roman.
Eines Sonntagabends im Juli, mitten in der heißesten Zeit, waren wir beide beim Lesen. Ich las Bolaño, er Kurzgeschichten von J. G. Ballard. Ich saß in meinem Lesesessel, Javier lag auf der Couch.
Ich legte mein Buch hin.
»Willst du nicht hierher ziehen, Javier?«
»Hierher?«
»Zu mir.«
»Willst du damit sagen, wir leben nicht zusammen?«
»Du lebst in Juárez. Komm hierher.«
»Ich habe keine Papiere. Das weißt du.«
»Wir können doch den Antrag stellen. Ein Visum hast du ja schon.«
»Nur zu Besuchszwecken. Dein Land möchte nicht, dass ich bleibe.«
»Werd nicht spitzfindig. Und was spielt es schon für eine Rolle, was dieses Land möchte?«
»Länder sind bedeutender als Menschen.«
»Scheiß auf die Länder. Ich hasse sie alle. Du bist das einzige Land, das ich will.«
Er antwortete nicht. Aber dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Du hast heute Morgen Zeitung gelesen, oder, Carlos?«
»Es wird immer schlimmer mit den Morden.«
»Ich bin in Sicherheit.«
»In Sicherheit?«
»Für mich reicht sie.«
»Zieh hierher.«
Er richtete sich auf und legte sein Buch beiseite. »Ich kann nicht weg aus Juárez.«
»Warum denn nicht?«
»Du weißt warum.«
»Nein, das weiß ich nicht.«
»Was würde passieren, wenn alle gehen?«
»Dann würde die Stadt sterben.«
»Genau, Carlos.«
»Aber wenn du stirbst?«
»Du solltest aufhören, Zeitung zu lesen.«
»Das kann ich nicht, Javier.«
»Mir passiert schon nichts. Wir können ewig so weiterleben.«
»Dann ziehe ich nach Juárez.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Du gehörst hierher.«
»Ich gehöre zu dir.«
Er lächelte. »Das hast du noch nie gesagt.«
»Ich kann dir jeden Tag sagen, dass ich dich liebe. Jeden Tag meines Lebens. Und es ist wahr.«
»Du musst mir nichts sagen, was ich sowieso schon weiß.«
»Dann ziehe ich nach Juárez.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Was ist, wenn dir irgendwas passiert?«
»Was soll denn passieren?«
»Du weißt, wovon ich rede.«
»Und du weißt, wovon ich rede.«
Zu guter Letzt brüllten wir uns an. Er hatte mich noch nie angebrüllt. Ich ihn auch nicht. Das einzige Mittel, diesen Streit zu beenden, war Sex. Hinterher im Bett flüsterte er: »Ich kann nicht über meinen Schatten springen, Carlos. Ich bin nun mal so.«
Ich war nicht seine einzige Liebe und würde es auch nie sein. Vielleicht liebte er Juárez mehr als mich. Aber in Bezug auf mich hatte er recht gehabt. Ich war kein eifersüchtiger Typ. Er konnte sein Juárez lieben. Und er konnte auch mich lieben. So würde es sein.
»Wir können ewig so leben«, sagte ich. Dabei hatte ich so viel Glück gar nicht verdient.
Am letzten Freitag im August rief ich Javier auf seinem Handy an. »Bist du gerade unterwegs?«
»Nein, ich warte auf den Konsul, der ist noch bei einem Essen.«
»Wann hast du frei?«
»Nicht vor sieben. Der Botschafter ist in der Stadt. Am Sonntag muss ich ihn nach Chihuahua fahren.«
»Okay. Dann treffen wir uns nach der Arbeit auf einen Drink im Kentucky Club. Und heute bin ich mal dran, bei dir zu übernachten.«
Ich merkte, dass er zögerte.
»Javier?«
»Ja, wunderbar«, sagte er.
Beim Überqueren der Brücke fiel mir auf, wie wenig hier los war. Als ich jung war, wimmelte es auf der Santa Fe Bridge vor Fußgängern. Die Avenida Juárez war voll von Straßenimbissen und Leuten aus El Paso, die nach einer langen Woche endlich mal ausspannen wollten. Aber diese Zeiten waren vorbei. Die Brücke war praktisch menschenleer. Ich ging vorbei an den Soldaten, die ihre Gewehre auf dem Rücken trugen, Soldaten, die aus der Nähe mehr Ähnlichkeit mit Schuljungen hatten als mit erwachsenen Männern. Als ich den Kentucky Club betrat, saß Javier am Tresen.
Wir berührten uns mit den Augen.
»Bist du schon lange da?«
»Gerade erst gekommen.«
»Ich hab dir eine Margarita bestellt.«
»Ich hasse Margaritas.«
»Ich auch. Aber ich fand, wir sollten trotzdem eine trinken.«
Ich musste lachen.
Wir setzten uns an einen Ecktisch.
»Niemand kommt mehr hierher«, sagte ich.
Wir tranken unsere Margaritas. Er war still, ich war gesprächig. Ich erzählte ihm, dass ich als junger Mann öfters hier gewesen war, dass mir einmal ein älterer Gringo einen Antrag gemacht hatte, der schon zum Reden zu betrunken war. »Er hätte keinen mehr hochgekriegt.«
»Du musst sehr gut ausgesehen haben.«
»Darüber habe ich mir nie groß Gedanken gemacht.«
»Warum nicht?«
»Seit wann ist es ein Verdienst, gut auszusehen?«
Javier betrachtete mich. So wie er mich immer betrachtete.
»Weißt du«, sagte ich, »ich mochte nicht darüber nachdenken, wie ich aussah. Ich glaube, ich mochte es nicht mal, einen Körper zu haben.«
»Warum nicht?«
»Mir hat jemand etwas angetan. Als ich ein Junge war.« Javier musterte mein Gesicht. »Das hast du nicht verdient.«
»Bring mich nach Hause«, sagte ich.
Seine Wohnung war nicht gerade groß – Schlafzimmer, kleines Wohnzimmer, Küche, Bad. Überall gab es Pflanzen und Bücher. An den Wänden hingen Fotografien. Und in seinem Schlafzimmer ein Bild von mir. Die Wohnung hatte eine Art sachliche Eleganz, die mich an sein Lächeln erinnerte.
Wir liebten uns nicht. Wir hielten uns nur fest umschlungen.
Mitten in der Nacht wachte ich auf und zog mich aus. Javier war im Wohnzimmer, in einen meiner Romane vertieft.
»Was machst du da?«, fragte ich.
»Ich liebe den Autor. Hab ich dir das noch nicht gesagt?« Den Rest der Nacht schliefen wir nicht mehr.
Читать дальше