»Sind Sie etwa einer von denen?«
Ich sah ihm ins Gesicht. Er lächelte. »Einer von denen?« Jetzt lachte er. »Einer von den Mexikanern, die andere Mexikaner hassen.«
»Nein, an der Krankheit leide ich nicht.«
»Woran leiden Sie dann?«
Ich antwortete nicht. Ich sah ihm nur in die Augen. Die schokoladenbraunen Augen. Ich glaube, ich suchte nach Leiden .
»Sie sind kein richtiger Mexikaner«, sagte er.
»Kein Mexikaner. Kein Amerikaner. Scheiß drauf ! Das ist die Krankheit, an der ich leide.«
Wir setzten uns nach draußen. Es war ein kühler Morgen. Der Wind war zurückgekehrt, der Wind, der so sehr zu El Paso gehörte, der Wind, der sich weigerte, uns zu verlassen und verhinderte, dass wir die Sonne genießen.
»Sie frieren«, sagte er.
»Ich hab meine Jacke vergessen.«
»Wir können wieder reingehen.«
»Nein«, sagte ich. Wir taxierten einander. Meine Augen waren heller als seine. Rostbraun. »Ich wohne in der Nähe.«
Er überlegte.
»Ich will hier niemanden abschleppen.« Schon als mir diese Worte über die Lippen kamen, merkte ich, wie beleidigend sie klangen. Es tat mir leid, dass ich überhaupt etwas gesagt hatte.
»Nein«, erwiderte er, »zu einem Mann wie Ihnen passt das nicht.« Er lächelte. »Ich heiße Javier.«
»Javier«, sagte ich, »und ich bin – «
»Jeder weiß, wer Sie sind.«
»Niemand weiß das.«
Er lachte, dieser Javier, der seinen Kaffee schwarz trank.
»Also los. Ich möchte hören, wie Sie Ihren Namen sagen.«
»Juan Carlos.«
»Juan Carlos«, wiederholte er. »Und wo wohnen Sie?«
»Sunset Heights.«
Er tippte leicht an seinen Pappbecher. »Interessante Gegend.«
»Es ist schön hier«, sagte er. Und musterte eines meiner Bilder.
»Ein altes Haus, um 1900 gebaut.«
»Zehn Jahre vor der Revolution.«
»Vor mehr als hundert Jahren.«
»Da wären wir nun. Ein richtiger Mexikaner und ein Mexikaner, der Amerikaner ist.«
»Mein Großvater wurde hier geboren«, sagte ich.
»Mein Großvater wurde in Israel geboren.«
»Also bin ich mehr Mexikaner als Sie.«
»Das würde ich so nicht sagen.« Ich musste lachen.
Er betrachtete noch immer das Gemälde. »Was bekümmert diesen Mann?«
»Er ist den Krieg leid.«
»Ich bin den Krieg auch leid.«
»Israel«, sagte ich. »Israel und Mexiko. Ein echtes Kriegskind.«
»Ja. Vielleicht geht es bei der Beschneidung nur darum.« Wieder musste ich lachen.
»Sie auch«, sagte er. »Ich glaube, Sie sind auch beschnitten.«
»Was für eine Tragödie«, erwiderte ich, »die Vorhaut zu verlieren. Nicht dass ich Jude bin. Das macht Ihnen doch nichts aus – dass ich kein Jude bin?«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich Jude bin.«
»Aber dass Ihr Großvater in Israel geboren wurde.«
»Er war Iraker, kam in Israel zur Welt. Floh nach Mexiko. Heiratete meine Großmutter in Chihuahua. Und wurde in einer Bar umgebracht. Er prügelte sich gern.«
»Ein Kriegskind«, wiederholte ich.
Er lachte. »Warum sind Sie beschnitten?«
»Keine Ahnung. Eines Tages wachte ich auf, und es war, wie es war.«
»Richtige Mexikaner sind nicht beschnitten.«
»Dann wäre das geklärt. Ich bin kein richtiger Mexikaner.« Er merkte, dass mir das Gespräch unangenehm wurde.
»Sie reden nicht gern über Beschneidung?«
»Es war bislang nie Thema in meinen Gesprächen.«
»Und Sie prügeln sich nicht gern?«
»Nein. Ich schlage mich nicht gern.«
»Sie sind wirklich kein Mexikaner«, sagte er.
Ich nahm ihm den Pappbecher aus der Hand und reichte ihm dafür eine frische Tasse Kaffee. Meine Lieblingstasse, die mit van Gogh darauf.
»Es war also nicht gelogen.«
»Was?«
»Dass Ihr Kaffee auf Sie wartet.«
»Ich mache immer welchen, bevor ich meine Zeitung hole.«
»Was gefällt Ihnen an Zeitungen?«
»Die Welt ist groß.«
»Um das zu wissen, brauchen Sie eine Zeitung?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Wirklich?«
»Sie liefert mir die Details.«
»Die Welt, in der Sie leben, liefert Ihnen alle Details, die Sie brauchen.«
»Nein.«
»Doch.«
Schon waren wir in Streit geraten.
»Ich brauche Fakten.«
»Wofür?«
»Als Hilfe, damit ich mir eine Meinung bilden kann.«
»Wissen Sie denn nicht, was Sie denken?«
»Ich habe nicht immer recht.«
Er lachte. »Sie beobachten mich.«
»Beobachten?«
»Wenn Sie ins Café kommen, beobachten Sie mich.«
»Sie wirken immer so selbstvergessen.«
»Interessantes Wort. Höre ich zum ersten Mal.«
»Ich meine, Sie scheinen nichts wahrzunehmen, abgesehen von dem Buch, das Sie gerade lesen.«
»Carlos, ich nehme durchaus einiges wahr.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Das heißt, Sie beobachten mich auch.«
»Ja.«
»Und warum?«
»Warum nicht?«
»Javier, Sie sind ein schöner Mann. Und ich? Nicht besonders schön. Ihr Englisch ist perfekt.«
»Perfekt, aber mit einem Akzent.«
»Was es sogar noch perfekter macht.«
»Sie sind etwas Besseres als schön«, sagte er.
»Was kann schon besser sein als schön?«
»Interessant. Interessant ist viel besser als schön.« Er streckte die Hand aus und strich mit dem Finger über meine Wange. Seine Hände waren rau. Seine Finger schwielig.
Vielleicht spielte er ja Gitarre.
Ich hätte gern seine Finger geküsst.
»Sie sind still«, sagte er.
»Wenn ich nichts sage, bleibe ich interessant.«
Er fuhr mit den Fingern durch mein grau meliertes Haar.
»Ich bin älter als du«, sagte ich. Er küsste mich.
Ich erwiderte den Kuss.
Wir saßen auf dem Balkon, tranken unseren Kaffee – und lauschten dem Regen.
»Ich weiß nichts von dir«, sagte ich.
»Was willst du wissen?«
Also erzählte er. Wie er sich um seinen Onkel kümmerte, der Lungenkrebs hatte und bald sterben würde, wie er geholfen hatte, seine gelähmte Tante zu betreuen. Dass er jedes Wochenende aus Juárez herkam – von Freitagabend bis Sonntagabend – und zwischendurch, wann immer es ging. Dass er als Chauffeur für das amerikanische Konsulat in Juárez arbeitete, dass er bei Onkel und Tante gelebt hatte, die in der Florence Street wohnten, damit er zur Schule gehen konnte, und dass man sie für seine Eltern gehalten hatte, dass er ganze zwölf Jahre lang an den Wochenenden nach Hause gefahren war, um bei seiner Mutter zu sein, einer Sozialarbeiterin, die sich leidenschaftlich für Transvestiten eingesetzt hatte, wie sein Vater umgebracht worden war und vielleicht eine weitere Familie in Chicago oder Los Angeles oder Chihuahua zurückgelassen hatte (ich war nicht der einzige, der sich Geschichten über andere Leute ausdachte). Dass seine Tante an Krebs gestorben war und er seinem Onkel geholfen hatte, sich um alles zu kümmern, und dass er sich jetzt um ihn kümmerte. Aber nur an den Wochenenden.
»Hast du ihn gern?«
»Er war gut zu mir. Meine Tante war streng, aber er nicht. Er war weich. Kann man das so sagen? Weich?«
»Sanft, ja.« Ich beugte mich zu ihm und küsste ihn. Mein Gott, wie schön er war. Dies war nicht bloß eine Geschichte, die ich mir ausdachte.
»Meine Tante, die mochte ich nicht.« Er zog eine Zigarette aus der Tasche. »Stört dich das?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Willst du auch eine?«
»Ich hab vor Jahren aufgehört.«
»Warum?«
»Weiß nicht mehr.«
»Bist du einer, der bei gewissen Dingen unter Gedächtnisschwund leidet?«
» Cuando me conviene. « Er lachte.
Ich sah zu, wie er sich die Zigarette anzündete. Und erinnerte mich daran, wie einmal eine Frau in einer Bar auf mich zugekommen war, als ich gerade eine Zigarette rauchte, und mir gesagt hatte, ich sei schön. Sie küsste mich. Ich ließ ihre Zunge eine ganze Weile in meinem Mund. Sie schmeckte nach Cognac und Kirschen.
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