»Ist die geladen?«, fragte der Geiselnehmer und ließ sie am ausgestreckten Zeigefinger baumeln.
»Das solltest Du nicht ausprobieren. Wenn die draußen einen Schuß hören, wird gestürmt und das überlebst Du nicht. Nimm lieber etwas Pizza. Hier, mit schön viel Salami.« Jakob schoß die Schachtel quer über den Tisch in Richtung des Geiselnehmers. Die Pappe kam an einer wildledernen Stiftmappe ins Straucheln, stieß gegen einen krummen Heftstapel, der sich zögernd entschloß, vom Tisch zu stürzen. Der Geiselnehmer öffnete ungerührt den Karton, riß ein Stück Pizza ab, faltete es zusammen und schob es sich in den Mund. Mit fettigen Fingern griff er wieder nach der Waffe, dieses Mal schon deutlich routinierter. »Der bei mir um die Ecke ist besser.«
Jakob zog die Schultern hoch. »Die Schrippen waren schlimmer.«
»Kaviar muß ich trotzdem mal kosten.«
»Wenn wir alle heil draußen sind, lade ich Dich ins KadeWe ein."
»So siehst Du aus.« Der Geiselnehmer lachte. »Ich und ein Kripomann, noch dazu einer vom Mord.«
»Woher weißt Du das, sollte ich Dich kennen?« Jakob nahm sich eine Papierserviette vom Stapel der übrigen Pizzakartons, wischte sich sorgsam die fettigen Finger ab und sah den Geiselnehmer an.
»Du bist eine Legende, Mann. Ein Bulle, der ’nen Kollegen in den Knast bringt, weil der seine Mausi umgenietet hat, obwohl der Fall längst zu war und so ’ne arme Sau schon stellvertretend einsaß. Den, der so was fertig bringt, wollte ich schon immer mal treffen, habe mich bloß gefragt, ob ich dafür einen abmurksen muß.« Er griff sich ein weiteres Stück Salamipizza, klappte es zusammen und schob es quer in den Mund. Seine Kiefermuskeln waren Hochleistungseinsatz gewöhnt, Jakob dachte an eine Schlange, die eine Maus hinunterwürgt. »Wie man sieht, geht es auch anders«, sagte er schmatzend, »freut mich, Dich kennenzulernen, Hagedorn.«
Jakob griff den Stapel Pizzakartons und deutete fragend zur angebundenen Lehrerschar. Der Geiselnehmer nickte. Jakob brachte die Pizza zu den Lehrern, öffnete zwei Kartons und bat sie, mit der jeweils freien Hand zuzugreifen. »Es tröstet mich, daß wir uns nicht kennen. Ich vergesse kein Gesicht, mit dem ich es mal zu tun hatte.«
»Sag mal, stimmt das, daß Du die Leichen siehst, so als Geister und so? Hat mir ein Kumpel erzäht, der saß mit einem Mörder von Dir in einer Zelle.«
»Hier im Raum sind keine und das sollte auch so bleiben, wenn Du mich fragst.«
Der Geiselnehmer starrte ihn an und rülpste. »Hängt ganz davon ab, ob ich kriege, was ich will.«
»Und das wäre?«
Der Geiselnehmer nahm sich Jakobs Waffe, spielte damit und zielte auf die Orgelpfeifen an der Heizung, die nach Luft schnappten. »Gerechtigkeit für meinen Bruder.«
Jakob ging zu den Geiseln, nahm die offenen Pizzakartons weg und schob sich so in die Schussbahn. »Wer ist denn Dein Bruder? Wart Ihr schon so weit, das zu klären?«
»Alexander, so heißt er«, sagte eine Frau mit geschlechtslosem Bürstenhaarschnitt leise. »Wir mußten ihn von der Schule verweisen.«
Der Geiselnehmer kam auf die Frau zu und schwenkte die Waffe vor ihrem Gesicht. »Gar nix mußtet ihr. Ein super Schüler ist er, immer gute Noten hat er nach Hause gebracht.«
Jakob sah die Frau an.
»Er ist einfach nicht mehr erschienen.« Sie zog die Schultern hoch. »Was sollten wir denn machen?«
»Vielleicht mal seinen großen Bruder fragen, Ihr Penner? Ich hätte das schon geklärt. Stattdessen kündigt Ihr ihm, so ein Scheiß.«
Jakob drehte sich zu ihm um. »Wie heißt Du, großer Bruder?«
»Wladimir, verflucht noch mal. Und ich bin ein guter Bruder.«
»Deshalb bist Du jetzt hier.«
»Genau, Alter, man hilft seinem Bruder.«
Jakob drehte sich zurück zu den Lehrern. »Also, wie war das mit Alexander?«
Die Frau mit der Bürste antwortete, nachdem sie jeden ihrer Kollegen angesehen hatte. »Alex war mein Schüler, in Mathe, Physik und Chemie. Er war zuletzt in der 10a und ein guter Schüler, Sie haben recht. Manchmal dachte ich, er ist so etwas wie mein verlängerter Arm in der Klasse, verantwortungsbewußt, sehr aufmerksam bei Ungerechtigkeiten, ruhig und besonnen.« Wladimir grunzte zufrieden, setzte sich auf den Lehrertisch und legte Waffe, Messer und Handy neben sich. »Vor gut vier Monaten wurde er dann achtzehn. Das ist alt für einen Schüler der zehnten Klasse, vielleicht hat ihm das etwas ausgemacht, ich weiß es nicht, zumindest hatte er sich in den Wochen vor seinem Geburtstag verändert. Verunsichert wirkte er, angeschlagen. Ich habe versucht, mit ihm zu sprechen, aber er wollte nicht.«
»Sind Sie seine Klassenlehrerin?«, fragte Jakob.
»Nein, das ist Lars Thom«, sie deutete auf einen jungen, durchtrainierten Kollegen, der sich an den Heizkörper klammerte. »Es schien mir nur, Alexander und ich hätten einen Draht zueinander, deshalb habe ich es versucht.« Sie rieb sich mit der freien Hand das Handgelenk der anderen. Das Seil schnitt ihr ins Fleisch. »Gut eine Woche nach meinem Gesprächsangebot war er verschwunden, um seinen Geburtstag herum. Normalerweise nehmen wir in solchen Fällen Kontakt auf zu den Eltern, aber Alex war achtzehn, das heißt, er kann tun und lassen, was er will.«
»Scheiße, Mann, Ihr müßt Euch doch trotzdem kümmern«, sagte Wladimir.
»Wenn Sie mich ausreden ließen, wüßten Sie, daß wir das getan haben.«
Wladimir hob begütigend die Arme, Waffe, Messer und Handy in Griffweite.
»Erzählen Sie weiter«, sagte Jakob und behielt ihn im Blick.
Die Frau räusperte sich. »Das Sekretariat war erst nach vier Wochen bereit, den obligatorischen Brief zu schicken. Androhung des Schulverweises wegen der angesammelten unentschuldigten Fehlstunden im üblichen Amtsdeutsch. Mir war das zu wenig, deshalb bin ich zu Herrn Thom gegangen und habe mit ihm geredet.«
Alle sahen zu dem jungen Lehrer, der sich dichter an die Heizung drückte.
»Er sah keinen Handlungsbedarf?«, half Jakob nach.
»Schlimmer. Das geht uns nichts an, hat er gesagt, Alex ist volljährig.« Die Frau sah den Kollegen strafend an. »Also habe ich dem Jungen selbst geschrieben. Versucht, Hilfe anzubieten, ohne daß ich wußte, worum es ging.«
»Er hat nicht reagiert?«
»Leider. Da ich stur bin, habe ich ihn in seiner Wohnung aufgesucht. Sturm geklingelt, angerufen. Bin immer wiedergekommen.«
»Aber er wollte sich nicht erretten lassen?«
»Offensichtlich nicht. Man muß wohl irgendwann akzeptieren, wenn die angebotene Hilfe ausgeschlagen wird.«
Wladimir griff sich das Messer, stand auf und ging auf die Frau zu, zerschnitt das Seil um ihr Handgelenk und warf die Stücken auf den Fußboden. Als er im Rücken Jakobs Bewegung bemerkte, drehte er sich um und griff zu der Waffe auf dem Tisch. »Denk’ nicht mal dran, Alter«, sagte er und setzte sich wieder.
Jakob war müde. Die letzte Nacht hatte ihn mehr erschüttert als ihm lieb war. Wenn er sich bewegte, roch er immer noch Hannas Haut. Sein Kopf funktionierte nicht richtig. Als sei etwas verrutscht. Die Stimmen schienen durch den Raum zu wandern, er hörte es klopfen, wahrscheinlich die Heizkörper. »Bleibt die Frage, was vorgefallen ist«, sagte er. »Alexander war ein guter Schüler, integriert in die Klassengemeinschaft,« er sah die Lehrerin an, »ein Vorbild sogar.« Sie nickte heftig. »Was ist an einem achtzehnten Geburtstag so dramatisch, daß es einen aus der Bahn wirft? Die Freiheit, die Verantwortung, für sich selbst auf eine neue Weise einstehen zu müssen, überfordern manchen, aber doch nicht Alexander?«
Jakob sah fragend die Heizung entlang. Der Klassenlehrer Thom sah auf den Boden, sein Ohrring blinkte in der Sonne wie eine Kaskade von Sternen. Jakob blinzelte, aber die Sterne breiteten sich im Raum aus und tanzten in den durch das Fensterlicht angeleuchteten Staubbahnen, als wollten sie eine neue Milchstraße bauen, mitten im Lehrerzimmer einer Weddinger Oberschule.
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