Zwei Stunden, nachdem Kommissar Jakob Hagedorn seine großen Füße auf den Dielenboden seiner Höhle gesetzt hatte, steckte er mit beiden Armen tief im Dienst, Frieda war weit weg bei ihrem winterlichen Tagwerk, sein Bett so kalt wie die Straßen der Stadt. Um zehn Uhr dreizehn lief ein Notruf ein, bewaffnete Geiselnahme in einer Weddinger Oberschule. Das zuständige Kommissariat war von Krankenstand und Sparmaßnahmen leergefegt und so half die Mordkommission aus. Um elf Uhr siebenundzwanzig waren die Schüler evakuiert, das Gelände gesichert, der Geiselnehmer saß im Lehrerzimmer mit einer unbekannten Zahl Geiseln. Jakob betrat das Gebäude, schickte die versammelten Einsatzkräfte nach draußen und klopfte.
»Weg von der Tür, Ihr Scheißer, oder ich murkse sie alle ab.«
»Ich bin Jakob Hagedorn, Hauptkommissar, außer mir ist hier niemand. Die anderen warten draußen und fragen sich, was sie für Dich tun können.« Jakob horchte. Leises Wimmern drang aus dem Lehrerzimmer. »Also ich fände Kaffee eine gute Idee.«
Stille.
»Nur müßten die draußen wissen, ob mit Milch und Zucker. Milch würde ich nicht hinterkriegen, dieses cremige Zeug, aber das ist natürlich Gechmacksache. Was hältst Du davon, wenn sie Dir gleich eine Kanne reinschicken, Beilagen extra, und ein paar Becher dazu?«
Stille.
»Nicht, daß ich was gegen Selbstgespräche habe, aber könntest Du vielleicht mal antworten? Oder noch besser, Du läßt die Frau raus, die da so wimmert, man kann sich ja kaum unterhalten. Und für Dich ist es sicher egal, ob nun einer mehr oder weniger. Also, ich bestelle mal eben den Kaffee und dann komme ich zurück.«
Jakob verließ den Vorraum, ging durch das Portal und schickte einen beispringenden Kollegen Kaffee und Brötchen holen.
»So, bin wieder da, kommt alles. Hier um die Ecke gibt es einen Kiosk, der hämmert Euch was zusammen. Ist ein freundlicher Kiez, wußte ich gar nicht. Die Panke plätschert vorbei, paar schöne Bäume auf dem Hof, was will man mehr, um ins Leben zu starten.«
Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein verquollener Mann um die Vierzig taumelte heraus. »Das ist die Heulsuse«, donnerte es aus dem Hintergrund. »Der ist nicht mal ’nen Pott Kaffee wert.«
Jakob zog den Mann aus dem Vorraum, winkte den Kollegen am Portal und übergab ihnen den Schluchzenden. Er ließ sich das Tablett mit dem Kaffee und eine große Tüte belegter Brötchen geben, stellte beides auf den grauen Linoleumboden vor die Tür des Lehrerzimmers, nahm sich ein Brötchen und setzte sich neben die Tür. »Zimmerservice«, rief er. Die Tür öffnete sich einen Spalt.
»Woher weeß ick, daß da nüscht zum Schlafenlegen drin ist?«
»Laß Deine Gäste essen und trinken. Wenn sie nach einer Stunde noch wach sind, ist der Rest für Dich. Aber dann ist der Kaffee kalt.«
»Leck’ mich.«
»Du kannst uns natürlich auch einfach vertrauen«, sagte Jakob und biß von dem Brötchen ab. »Der Käse schmeckt nach Aldi .«
Eine behaarte Hand, geschmückt mit einer beachtlichen Goldkette, zog an dem Tablett, krachend schloß sich die Tür. Jakob wartete schweigend und kauend. Gummi, dachte er. Eine Schrippe war das zuletzt im Mittelalter.
»Großmaul«, hallte es eine Viertelstunde später aus dem Lehrerzimmer, »bist Du noch da?«
»Wie könnte ich weggehen, ohne mich von Dir zu verabschieden.«
»Sag denen, ich will Kaviar. Und Lachs. Schampus. Persecco.«
»Wir sind hier im Wedding, wo sollen die das denn herholen?«
»Ist mir doch egal, KadeWe oder so. Genau, ich will einen richtig fetten Freßkorb. Von ganz oben, wo die Geschniegelten immer sitzen und uns angucken, als müßten wir ihnen die Schuhe putzen.«
»Weißt Du, wie lange das dauert? Da müssen wir erst den Chef vom KadeWe überzeugen, daß er Dir kostenlos einen zusammenstellt, weil, auf Staatskosten geht das gar nicht, Du kennst ja unseren Finanzsenator, spart an allen Enden. Und außerdem jagst Du dann die nette kleine Kollegin hin, die vor der Tür wartet und die bekommt den ganzen Zoff ab, dabei kann sie gar nichts dafür. Nee, das gefällt mir nicht, das lassen wir.«
»Und wenn ich meinen Geiseln was antue?«
»Sitzt Du in der Scheiße. Und Kaviar kriegst Du trotzdem nicht. Schmeckt übrigens sowieso nicht. Stell Dir vor, Du langst in ein Salzfaß, in dem etwas Glibberiges schwimmt, das nach nix schmeckt.«
»Und warum essen die das dann alle?«
»Damit Leute wie Du denken, daß sie die sind, denen die Schuhe gehören und nicht die, die sie putzen.«
»Ich hab’ aber Hunger.«
»Das waren zehn Schrippen, haben Deine Geiseln Dir nichts übriggelassen?«
»Ich bin eben gut erzogen.«
Jakob lachte.
»Hör’ auf zu lachen, Du Arsch.«
»Sei nicht so empfindlich. Was hältst Du von Pizza?«
»Gibt der Polizeipräsident Dir das wieder?«
»Der mag keine Pizza.«
Man einigte sich auf eine Einladung aus Anlaß der neuen Bekanntschaft. Jakob kehrte mit einem Stapel Pizzakartons auf dem Arm zurück in den Vorraum. »So langsam wird mir das aber zu blöd, mit Dir immer durch die Tür zu reden. Ich lasse meine Knarre hier draußen, wenn Du willst, kannst Du mir ja dabei zusehen, und dann kommen die Pizza und ich rein.«
Stille.
Jakob legte seine Waffe auf die Fensterbank und öffnete langsam die Tür. Die Mitte des Lehrerzimmers war gefüllt mit zusammengeschobenen Tischen. Darum gut dreißig Stühle, darauf jede Menge Schulhefte, Bücher, Stiftmappen. Lehrers Arbeitsplatz, nicht mal ein eigener Schreibtisch für jeden. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes verschanzte der Geiselnehmer sich hinter einem Regal, in seinem Arm eine Geisel, an deren Hals er theatralisch ein großes, böse blinkendes Messer drapiert hatte. Die Frau war langstrippig blond, in Lehreruniform. Jeans, T-Shirt, Pullover drüber, Nickelbrille. Sie sah aus, als bräche ihr demnächst das Genick von allein.
Links vom Geiselnehmer unter dem Fenster saß die Reihe der übrigen Geiseln, acht müde, schweißnaß gerötete Lehrergesichter, die sich in ihr schon lange so ähnlich erwartetes Schicksal fügten. Sie waren aneinander und an die jetzt im Februar unangenehm heißen Heizungsrohre mit Seilen gefesselt. Jakob ging zielstrebig auf die raumgreifende Tischplatte zu und verteilte seine Pizza. »Leider wußte ich nicht, was Deinen Geschmack trifft, deshalb habe ich die Speisekarte rauf und runter mitgebracht. Salat ist nicht dabei, ich dachte mir, Du bist sicher kein Grünzeugesser.«
»Woher willst Du das wissen?«, fragte der Geiselnehmer, ohne das Messer vom Hals der Lehrerin zu lösen.
»Soll ich noch mal losgehen und welchen holen?«
»Quatsch, stell’ Dich da hinten an die Wand zu den anderen und binde Dich fest.«
Jakob öffnete seelenruhig den ersten Pizzakarton und wedelte sich den Duft zu. »Das mache ich sicher nicht. Hast Du schon mal von einer Einladung zum Essen gehört, wo nur einer essen darf? Also, laß die Frau los, komm’ her und such Dir eine aus.«
Der Mann führte die Frau zu den anderen Geiseln und versuchte sie zugleich anzubinden und Jakob nicht aus den Augen zu lassen.
»Deine Pizza wird kalt, Mann. Glaubst Du, ich zahle so viel Geld für kaltes Gummi? Die Brötchen waren schon schlimm genug. Also, laß die Frau gehen und komm endlich her.«
Der Mann legte den Kopf schief und sah ihn an. Die Schulglocke läutete das Ende der sechsten Stunde ein.
»Siehst Du, jetzt hat sie Schulschluß. Was sollen denn ihre Leute zuhause denken, wenn sie nicht kommt.«
Der Mann ließ die Lehrerin los. Entgeistert sah sie zwischen ihm und dem Messer hin und her. »Worauf wartest Du, Alte, verschwinde, bevor ich es mir anders überlege.« Er wedelte mit der Hand, als sei sie eine lästige Fliege. Die Frau sah zu Jakob, der zur Tür deutete und sich ein erstes Stück Pizza nahm. Hastig stolperte die Frau los, riss die Tür auf und verschwand. Jakob sah zur weit geöffneten Tür und fragend zu dem Geiselnehmer. Der hob sein Messer, schüttelte den Kopf und ging selbst zur Tür. Sah vorsichtig um die Ecke und verschwand im Vorraum. Jakob kaute weiter. Als der Mann zurückkehrte, hatte er Jakobs Waffe in der Hand. Jakob kaute nicht mehr.
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