Jakob kehrte zurück, von wo er sieben Stunden zuvor aufgebrochen war. Wehrlos hatte Hanna sich in ihre Wohnung bringen und Tee einflößen lassen. Jakob hatte versprochen, nach Dienstende zurückzukommen. Als er die letzte Treppe nahm, kauerte sie in der Wohnungstür, als hätte sie auf ihn gewartet.
An manchen Tagen hätte man einfach liegenbleiben sollen. Im Nachhinein. Wäre Jakob an diesem Tag nicht aufgestanden, wäre er nicht gefallen. Aber selbst wenn, was hätte es genützt, das Schicksal läßt sich nicht austricksen, es kann warten, Zeit ist nicht sein Problem.
Aufstehen konnte Jakob schon immer gut. Außer im August vielleicht, wenn die Hitze jeden Knochen zu Brei kocht und niemand morgens noch die Kraft findet, der vor Tatendrang sprühenden Sonne bei ihrer Jagd nach neuen Rekorden hinterherzuschlurfen. An diesem knirschenden Februarmorgen jedoch stand der Fixstern selbst spät auf und blinzelte ihn sanftmütig wach. Auf dem Balkongeländer erschien Frieda, seine Spatzengesellschaft und quasselte ihm das Ohr fusselig. Jakob streckte sich, steckte noch einmal die Nase in die nachtwarme Bettwäsche, versuchte sich erfolglos einzubilden, er röche Hanna.
Seine Füße erkannten auf dem Weg zum Bad die Dielen wieder, wie jeden Morgen. Nun wohnte er schon so viele Jahre in dieser Wohnung, ohne sie satt zu haben. Er war gerade zwanzig geworden und im dritten Semester an der FU, als ihm eines Abends dämmerte, daß sein Vater nie in die Wohnung zurückkehren würde, in der seine Mutter acht Jahre zuvor gestorben war. Bei der nächsten Berliner Stippvisite zwischen irgendwelchen Bildhauerprojekten in Norwegen und Schafsfarmen in Irland sprach er ihn darauf an. Ich brauche kein Zuhause, antwortete sein Vater, Deine Mutter ist tot.
Vier Wochen später war Jakob in diesen ehemals schönen Altbau der Jahrhundertwende eingezogen, plattgebombt und wieder hochgefummelt in kargen Nachkriegsjahren, nachlässig verputzt Anfang der Achtziger, im mittelschönen Schöneberg, ohne Park, ohne Schnick, aber sein erstes eigenes Zuhause. Nicht in seiner jetzigen Wohnung hatte er angefangen, sondern im Parterre. Mittendrin, alles auf einer Ebene. Ein Zimmer, Küche, Innenklo, mit Bürgersteiganschluß, sehr gesellig. Alle klopften bei ihm ans Fenster, wenn sie den Hausschlüssel vergessen hatten. Postboten gaben Pakete ab, Eltern ihre Kinder, Alte ihre Hunde. Lüftete er, nahm man das als Aufforderung, die neuesten BZ -Katastrophen auszutauschen, kommentierte Jakobs Frauenbesuche und seine Einrichtung, riet zu mehr frischer Luft und weniger Büchern, brachte Kuchen vorbei und gebratene Rippchen.
Nach zwei Jahren griff Jakob aus Sorge um den Fortgang seines Studiums zu, als im dritten Stock eine Zwei-Zimmer-Wohnung frei wurde. Sein Blick ging fortan nicht mehr auf den Bürgersteig und die von Rüden als Kiosk mißbrauchten Baumscheiben vor dem Haus, sondern auf weit ausladende Baumkronen der Linden zur Straße und einer Kastanie zum Hof. Und da saß er nun, zwanzig Jahre später, und seine Zehen kannten jedes Astloch zwischen dem Bett und dem Bad. Durch die Baulücke gegenüber, seit fünf Jahren bodennah belegt von einem Gebrauchtwagenhändler, sah er die Sonne sieben Monate im Jahr untergehen, über dem Hof schien sie nach Ersteigung des Nachbarhauses morgens auf sein Bett.
Kann wohnen schöner sein?
Oskar war in den rund fünfzehn Jahren, die sie sich inzwischen kannten, sechs oder sieben Mal umgezogen. Jakob hatte immer mit angefaßt und sich gefragt, was ihn trieb. Vielleicht war Jakob als Kind einfach zu viel herumgekommen. Wenn sein Vater zum Aufbruch blies, hatten sie meist nur wenige Tage, bis es losging in irgendwelche Länder, zu irgendwelchen noch nie dagewesenen Vorhaben. Jakob war in seine Bücher getaucht, hatte sich einen Schlafplatz zuweisen lassen, erkundet, in welcher Himmelsrichtung seine Heimatstadt lag, sein Bett dorthin ausgerichtet und gewartet, bis es wieder zurückging. In eine neue Wohnung, einen anderen Kiez, aber heim nach Berlin.
Oskar hatte ihn oft gefragt, warum er nicht wegzöge. Der Umgebung seiner Wohnung waren die zwanzig Jahre mehr auf dem Buckel nicht gut bekommen. Aufgerauht und durchgegraut. Die Menschen sahen immer weniger zueinander und immer mehr auf ihre Displays. Die Straßenraubfrequenz nahm zu, im Parterre ließ niemand mehr seine Fenster offen, die Haustür hatte eine dauerhaft defekte Gegensprechanlage zur Verstärkung bekommen, die Eckkneipe war einer Daddelhölle gewichen, der kiezige Kramladen einer Billigdrogerie, der Schreibwarenladen rechts neben seiner alten Wohnung, vor dem sich zu Schulbeginn vor zehn Jahren noch die Kinder zappelnd anstellten, beherbergte jetzt eine Karaokebar.
Andererseits war es unter anderem diese Karaokebar, die ihn bleiben ließ. Eine Nachbarin hatte aus ihrem Schlafzimmer versucht, die vor die Bar tretenden Sänger an einem Sonntagmorgen um kurz nach vier mit dem Inhalt einer Wasserpistole auf ihre vom Alkohol vernebelten Hirne zum Schweigen zu bringen.
Da das aus dem vierten Stock wenig Erfolg hatte, bat sie den Kommissar um polizeiliche Mithilfe. Jakob traf mit dem schweigsamen Mieter aus dem ersten OG eine konspirative Vereinbarung. Der übernahm die Wasserpistole zu treuen Händen und die um ihren Schlaf gebrachte Nachbarin aus dem vierten dafür seinen Treppenwischdienst. Das war Nachbarschaft wie in alten Zeiten. Erst recht, als die Karaokebar an ihre Kundschaft Regenschirme ausgab und schließlich eine beschichtete Markise installierte. Sie nahmen es sportlich und brüteten über einer kreativen Antwort.
Nein, Jakob wußte nicht, warum er hätte umziehen sollen. Ringsum veränderte sich die Stadt, als hätte sie einen überdimensionierten Düsenantrieb unterm Hintern, seine Wohnung aber wurde immer gemütlicher. Bücher krabbelten die drei Meter vierzig hohen Altbauwände hoch, jedes Jahr baute er Regalbretter an. Seine Pflanzen wuchsen und rankten, als gälte es, ein vegetabiles Methusalemprojekt zu verwirklichen. Er hatte seinen Lesesessel mit dem Hocker aus Marokko davor, in den seine Fersen zwei Kuhlen gegraben hatten. Sein wohlig quietschendes Bett an der Wand, umbaut von Bücherregalen mit dem Ausblick auf den schönsten Balkon der Welt, auf dem die netteste Spatzendame von ganz Schöneberg ihr Zuhause hatte.
Jakob genoß das. Eine Wohnung, in die sein langer Körper wie in eine abgeliebte Wolldecke einwuchs, umgeben von Dingen, die ihm etwas bedeuteten, eingerahmt von Nachbarn. Ihre Geschichten, Streitereien, ihre Erfolge und Krankheiten. Frisch verliebtes Gelächter über den Balkon rangeweht. Zorn und endlose Gespräche die ganze Nacht, an- und abschwellend, um zu retten, was längst untergegangen ist.
Eine Frau, die zum Hof jeden Morgen ihr Schlafzimmmerfenster aufriss, der berufsmotivierten Trainerin von einer CD folgte, indem sie die Arme hob und senkte, in die Hände klatschte, den Morgen mit weit aufgerissenen Augen begrüßte und sich immer wieder einhämmern ließ, dies sei ein guter Tag. Und die eines Abends, als Jakob heimkam, auf der Treppe saß, um sich versammelt vier volle Einkaufstüten wie eine Schar müder Kinder, und heulte wie eine Fünfjährige, daß Rotz aus allen Öffnungen lief. Jakob setzte sich dazu, sah nach, was sie eingekauft hatte und bot ihr eine Banane an. Sie lachte, zog den Rotz hoch, sie teilten sich die Banane, sie ging hoch in ihre Wohnung und am nächsten Morgen riss sie wieder die Augen auf, klatschte in die Hände, als sei nichts geschehen.
Es war ja auch nichts geschehen. Außer, daß sie Jakob jetzt ansah, wenn sie sich begegneten, die Tür aufhielt, wenn er angeschlendert kam mit seinen langen Beinen und offenen Mänteln. Mehr nicht. Weniger nicht. Zieht man da aus, nur weil die Welt sich ändert? Man schleppt Bücher drei Treppen hoch und hofft, daß kein Erdbeben oder eine Fliegerbombe diese Höhle zum Einsturz bringt.
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