»Kommt er durch?«
»Wenn es keine Komplikationen gibt.«
Es war die erste halbwegs gute Nachricht nach dem Desaster des Vortags. Gut für ihren eigenen Seelenfrieden und gut für das Justizsystem. Sie dankte der Ärztin und verabschiedete sich. Es gab viel zu tun.
Im achten Stockwerk des Plattenbaus zerschnitt sie das Siegel an Hassan Moussounis Wohnung und trat ein. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit getan. Trotzdem wollte sie sich noch einmal gründlich umsehen. Zumindest redete sie sich das ein. Sie kannte natürlich den wahren Grund: Sie wollte allein sein, mochte mit niemandem reden. So stürzte sie sich in die Arbeit, als wäre sie die Erste am Tatort, versuchte, sich in die Gedanken der Bewohner zu versetzen, sich das fremdartige, offensichtlich nur auf Zeit angelegte Leben zwischen den kahlen Wänden vorzustellen. Immer wieder drängte sich ein hartnäckiger Vorwurf in den Vordergrund. Sie hätten die Fluchtmöglichkeit über die Balkons in der Einsatzplanung berücksichtigen müssen, so unwahrscheinlich sie auch schien. Sie waren gewarnt. Im Schreiben des Bundesnachrichtendienstes hieß es sinngemäß:
Der gesuchte Hassan Moussouni wird verdächtigt, als Anführer einer Terrorzelle der AQIM (al-Qaida des Islamischen Maghreb) Anschläge in Marseille zu planen. Der Verdächtige ist bekannt als rücksichtsloser, harter Elitekämpfer. Er ist Spezialist für Sprengstoffeinsätze. Man muss davon ausgehen, dass er eine Schusswaffe trägt, die er ohne Zögern einsetzt.
Da stand es, schwarz auf weiß, so wie es der BND von den Terrorspezialisten des französischen Auslandsgeheimdienstes, DGSE, erfahren hatte. Trotzdem hatten sie Moussouni unterschätzt, sich zu sehr auf den möglichen Sprengstoffeinsatz konzentriert. Solche Fehler durften ihr nicht mehr unterlaufen. Sie arbeitete schon zu lang an der Front beim BKA. Zu lang für eine glaubwürdige Entschuldigung. O. K., Moussouni konnte keinen Schaden mehr anrichten. Aussagen würde er allerdings auch nicht auf absehbare Zeit. Justitia musste warten. Nun rang ihr Partner mit dem Tod als Folge ihres Versagens. Das war das Schlimmste, der größte anzunehmende Unfall.
Aufgewühlt setzte sie die Suche nach jeder Nichtigkeit fort, die ihre Kollegen vom LKA vielleicht übersehen hatten. Sie war selbst ausgebildete Kriminaltechnikerin. Ihr entging normalerweise keine noch so kleine Spur. Dennoch fand sie nichts in der trostlosen Leere dieser Bleibe, die keine Wohnung war, eher ein Loch, in das man sich verkroch, um nicht gehört und gesehen zu werden. Was plante Hassan Moussouni in Hamburg? Er und wer immer sonst hier gewohnt haben mochte waren nicht zufällig in dieser Stadt abgestiegen. Vielleicht wollte der Algerier hier eine Terrorzelle aufbauen. Es wäre nicht sein erster Versuch. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu spekulieren.
Noch einmal streifte sie durch die Wohnung, klopfte an die Wände auf der Suche nach versteckten Hohlräumen. Irgendeinen Anhaltspunkt musste sie finden! Die Kriminaltechnik hatte das Wenige mitgenommen, das Moussouni hinterlassen hatte. Alles außer dem Fernseher und der Satellitenanlage. Dort genügte offenbar die Sicherstellung von Fingerabdrücken, Haaren und Hautpartikeln für DNA-Abgleiche. Vorwurfsvoll betrachtete sie das Empfangsgerät, als müsste wenigstens der schwarze Kasten zu ihr sprechen. Sie drehte ihn um, überprüfte gedankenverloren die verwirrende Vielfalt der Anschlüsse. Schon wollte sie sich abwenden, als sie plötzlich stutzte. Sie sah genauer hin, las die kryptische Beschriftung, dann nickte sie befriedigt. Das unscheinbare Gerät war kein primitiver Satellitenempfänger. Es enthielt ein Modem für den Internetverkehr über Satellit und eine Festplatte mit der Kapazität von hundert Gigabytes. Falls sie für einmal Glück hatten, konnten die Techniker damit Moussounis Netzaktivitäten rekonstruieren.
»Immerhin ein Hoffnungsschimmer«, sagte sie zum schwarzen Kasten.
»Wer sind Sie, was tun Sie hier?«, fragte eine schneidende Stimme auf dem Flur.
Chris fuhr erschrocken herum und blickte in die Mündung einer Pistole. Sie gehörte einem uniformierten Polizisten frisch von der Polizeischule, der vorsichtig auf sie zutrat.
»Oberkommissarin Hegel von BKA«, antwortete sie erleichtert. »Mein Ausweis steckt in der linken Hosentasche. Ich ziehe ihn jetzt heraus …«
Der Uniformierte wartete, die Pistole im Anschlag. Er entspannte sich erst, als er den Dienstausweis sah.
»Entschuldigen Sie, Kommissarin. Ich bemerkte das zerschnittene Siegel.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es war Ihre Pflicht, nachzusehen. Mein Fehler. Ich hätte Sie über meinen Besuch informieren müssen. Wieso sind Sie überhaupt hier?«
»Man hat uns gerufen, um allzu aufdringliche Presse-Fritzen zu vertreiben.«
Dabei grinste er unsicher und konzentrierte sich auf das Verstauen seiner Pistole.
»Die verlieren wirklich keine Zeit«, brummte Chris, während sie das Gerät von den Kabeln befreite. »Können Sie mich mitnehmen zum LKA? Ich bin mit dem Taxi gekommen.«
Der junge Beamte sah sie mit geweiteten Augen an, als hätte sie ihm ein unanständiges Angebot gemacht.
»Äh – ja, klar, kein Problem«, stammelte er nach einer Schrecksekunde. »Wir sind hier fertig.«
Ihre immer noch sportliche Figur und der lange, dicke, goldene Haarzopf wirkten offenbar selbst in ihrem lausigen Gemütszustand Wunder. Vielleicht lag es auch nur am angedeuteten Stupsnäschen.
Kapitel 2
Wiesbaden
Oberstaatsanwalt Richter fing sie vor dem Sitzungszimmer ab und stellte ihr die Frage, mit der sie die Kollegen im BKA neuerdings grüßten:
»Alles in Ordnung?«
Der Zusatz »Dr. Hegel« in lauerndem Ton fehlte. Ein sicheres Zeichen, dass der Staatsanwalt keinen heimtückischen Angriff auf sie plante. Sie nickte ihm mit gezwungenem Lächeln zu und trat ein. Richter eröffnete die Lagebesprechung, diesmal unterstützt vom leitenden Ermittler des LKA Hamburg, Hauptkommissar Justus Hansen, einem schmächtigen Mittfünfziger mit kahlem Schädel. Der nickte ihr freundlich zu, bevor er ausholte, um die Erkenntnisse im Fall Hassan Moussouni zusammenzufassen. Die ›Lage‹ verlief professionell emotionslos, als ginge alles seinen gewohnten Gang. Sie erwartete nichts anderes, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Gedanken wiederholt abschweiften. Im Geiste stand sie am Bett ihres Partners, der in diesen Minuten in einem Zustand zwischen Leben und Tod schwebte, während Hansen über Haare und Hautschuppen referierte. Seine letzte Bemerkung ließ sie aufhorchen.
»In der ganzen Wohnung gibt es nur DNA einer einzigen Person.«
»Das ist unmöglich«, protestierte sie. »Moussouni wird kaum abwechselnd in einem der beiden Schlafsäcke gelegen haben.«
Hansen nickte schmunzelnd. »Das hat uns auch stutzig gemacht, zumal Fingerabdrücke zweier verschiedener Personen sichergestellt worden sind.«
»Ganz was Neues. Ein Mensch hinterlässt Fingerabdrücke aber keine DNA«, brummte ein Kollege aus der KT.
»Das wäre in der Tat verblüffend«, gab Hansen zu. »So ist es aber nicht. Die zweite Person hat ebenfalls DNA hinterlassen, identische DNA.«
»Eineiige Zwillinge«, rief Chris überrascht. »Hassan Moussouni hat einen Zwillingsbruder. Warum wissen wir nichts davon?«
Sie richtete die Frage an den Oberstaatsanwalt. Die Peinlichkeit prallte an ihm ab wie die Billardkugel an der Bande und rollte direkt vor Hansens Füße. Der Hauptkommissar antwortete schnell und schneidig, als hätte er genau auf diese Frage gewartet:
»Der BND wusste Bescheid.«
Ein Raunen ging durch die Versammelten. Einzelne gedämpfte Flüche waren zu vernehmen.
»Ich bitte Sie, meine Herrschaften!«, fuhr Richter dazwischen. Dann fragte er Hansen lauernd: »Der BND hat Sie informiert?«
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