»Hab keine Angst, Prinzessin …«
Die Bewegung rettete ihr das Leben. Der Schuss traf Sven mitten ins Gesicht. Die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn zu Boden. Er rührte sich nicht mehr. Das Mädchen war verschwunden. Der Mann mit dem Gesicht des Fahndungsfotos gab einen zweiten Schuss auf sie ab. Ihre Hüfte brannte augenblicklich. Die Schritte des Gesuchten verhallten im Treppenhaus, bevor sie ihre ›Glock‹ auf ihn richten konnte.
»Sven – nein!«, stöhnte sie mit erstickter Stimme.
Unter seinem Kopf bildete sich eine Blutlache. Die Augen starrten ins Leere. Die Gliedmaßen zitterten im eisigen Hauch des Todes. Unscharf wie durch eine falsche Brille nahm sie seine letzten Lebenszeichen war, sah die Männer des SEK auf ihren Partner zustürzen. Als hätte sie Watte in den Ohren, vernahm sie nur Bruchstücke hektischen Funkverkehrs. Sie richtete sich ächzend auf. Das Feuer in der rechten Hüfte hinderte sie nicht daran. Im Gegenteil: Es verlieh ihr Flügel. Ein einziger Gedanke kreiste in ihrem Schädel und trieb sie an: Er darf nicht entkommen!
Sie hetzte dem Verdächtigen die Treppe hinunter nach. Neugierige Bewohner hatten sich auf den Flur in der siebten Etage gewagt, verschwanden aber beim Anblick ihrer Pistole schneller als Röhrenwürmer in ihren Wohnungen. Der Gesuchte war nirgends zu sehen. Sie hörte seine Schritte nicht mehr, sah jedoch bereits die Verstärkung des SEK die Treppe herauf stürmen. Dieser Fluchtweg war versperrt. Sie musste den Kerl stoppen, bevor er in eine weitere Wohnung eindringen konnte.
Ihre Hand mit der Waffe fuhr herum, als sie ein Geräusch hinter ihrem Rücken hörte. Ein weißhaariger Mann zeigte sich in einem Türspalt und deutete stumm auf ein schmales Zimmer neben dem Liftschacht. Er zog sich sofort wieder zurück. Eine Abstellkammer? Sie drückte sich an die Wand des Korridors, näherte sich der Kammer, vorsichtig darauf bedacht, das Schussfeld der Türöffnung zu vermeiden. Nach einem tiefen Atemzug versetzte sie der Tür einen kräftigen Faustschlag und brüllte:
»Polizei! Waffe fallen lassen! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«
Drei Schüsse waren die Antwort. Sie zerfetzten das Holz genau an der Stelle, wo sie geklopft hatte. Kaum waren sie verhallt, stand der Gesuchte vor ihr. Sie duckte sich. Mit einem einzigen Knall lösten sich zwei Schüsse. Seine sechste Kugel pfiff an ihrem Kopf vorbei, ihre zerschmetterte ihm die rechte Schulter. Seine Pistole fiel scheppernd zu Boden, doch der athletische Mann gab nicht auf. Er stürzte sich mit Triumphgeschrei auf sie, wollte sie mit dem unversehrten Arm in den Würgegriff nehmen. Ihr zweiter Schuss traf ihn in den Bauch. Mit pfeifendem Röcheln sackte er zu Boden, als ginge ihm die Luft aus.
Männer des SEK umringten sie. Der Einsatzleiter führte sie weg, während seine Leute die Waffe des Schwerverletzten sicherten und Erste Hilfe leisteten, wie sie es als Profis gelernt hatten.
»Kein Sprengstoff«, lallte Chris.
Sie grinste dabei albern, als wäre die Feststellung tatsächlich ein Grund zur Freude. Der Einsatzleiter blickte sie besorgt an.
»Alles in Ordnung?«
Sie reagierte nicht auf die Frage, die ihre grauen Zellen nur als dumpfes Rauschen erreichte. Es dauerte seine Zeit, bis das Adrenalin nicht mehr kochte in ihren Adern. Allmählich beruhigte sich ihr Puls. Der Gedanke an Sven jedoch sandte einen lähmenden Schock durch ihren Körper. Die Knie gaben nach. Sie musste sich hinsetzen.
»Sven – ist er …?«, stammelte sie tonlos.
Sie brachte die Frage nicht über die Lippen. Der SEK-Mann nahm den Helm ab und streifte endlich die Maske vom Gesicht. Mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn schüttelte er den Kopf und sagte:
»Ihr Partner lebt. Ein glatter Kopfdurchschuss. Es ist ein Wunder, aber sein Zustand ist äußerst kritisch. Er muss sofort in den OP.«
Nur Minuten später lag sie selbst nach einer Beruhigungsspritze auf der Trage im Rettungswagen. Sie zählte ängstlich die Sekunden, bis sie hörte, wie der Hubschrauber mit ihrem Partner und seinem potentiellen Mörder abhob. Was für ein elender Scheißtag! , dachte sie, bevor ihr die Augen zufielen.
Sie erwachte kurz nach Mitternacht. Trotz des langen, traumlosen Schlafs fühlte sie sich müde und ausgelaugt. Wenigstens brannte die Hüfte nicht mehr. Sie tastete vorsichtig nach der Stelle, wo sie der Streifschuss verletzt hatte, und riss dabei um ein Haar den Beutel mit der Infusionslösung vom Haken. Die Hüfte schmerzte nur, wenn sie auf den Knochen drückte.
»Warum versenken die mich im Krankenhaus?«, murrte sie.
Sie schwang die Beine aus dem Bett, blieb einen Augenblick benommen stehen im lächerlichen Krankenhemd. Den Sinn dieses Tuchs hatte sie nie verstanden. Ein Stofffetzen, der den Allerwertesten der öffentlichen Gaudi preisgab, die Vorderseite aber keusch verhüllte, albern.
»Sven!«, schoss ihr unvermittelt durch den Kopf.
Sie drückte hastig auf den Alarmknopf und ließ ihn erst los, als die Nachtschwester ins Zimmer trat.
»Legen Sie sich bitte wieder hin, Dr. Hegel«, war das Erste, was sie sagte.
Sie schlug die Bettdecke einladend zurück und wartete mit der Miene eines Blockwarts.
»Blödsinn, ich bin nicht krank«, murrte Chris. »Ich muss zu meinem Partner, Sven Hoffmann, wo liegt er?«
»Sie müssen sich schonen. Sie können jetzt nicht …«
Weiter gedieh der Protest der Schwester nicht. Mit offenem Mund sah sie zu, wie Chris das Heftpflaster vom Arm entfernte, die Infusionsnadel herauszog, zum Schrank ging und sich anzuziehen begann. Erst als sie nochmals nach Sven fragte, löste sich die Starre der Schwester.
»Ich rufe den Arzt. Warten Sie hier«, ordnete sie an.
»Gute Idee«, murmelte Chris und folgte ihr.
Das Gespräch mit dem Arzt war kurz.
»Kriminalkommissarin, aha«, murmelte er.
Es hörte sich an wie: »Alles klar …« Er reichte ihr ein Formular.
»Unterschreiben Sie bitte hier.«
Kommentarlos legte er das unterschriebene Blatt, das die gesamte medizinische Gilde Deutschlands und insbesondere dieses Krankenhaus von jeder Verantwortung entband, zu ihrer Akte.
»Die Schwester zeigt Ihnen den Weg zur Intensivstation, wo ihr Bekannter liegt.«
»Partner«, korrigierte sie.
Er nickte freundlich. »Partner. Gute Nacht.«
Die Ärztin auf der Intensivstation war jung, ihr emotionaler Panzer noch wenig ausgeprägt. Sie zeigte Mitgefühl, und Chris dankte ihr insgeheim dafür.
»Wir haben Herrn Hoffmann ins künstliche Koma versetzt. So braucht das Hirn weniger Sauerstoff und die Körperfunktionen können sich stabilisieren«, erklärte sie beinahe flüsternd, als fürchtete sie, den Patienten zu wecken.
Chris hörte nur mit halbem Ohr zu. Svens wächsernes Gesicht war kaum zu erkennen unter dem dicken Kopfverband, der Atemmaske, den Schläuchen und Messsonden. Die leise summenden, blinkenden und keuchenden Maschinen schienen das einzig Lebendige zu sein in dieser düsteren Kammer. Sie berührte sachte seine Hand.
»Es ist meine Schuld, Sven«, murmelte sie mit bebender Stimme. »Ich müsste jetzt da liegen oder im Sarg, nicht du.«
Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge und wandte sich ab. Die Ärztin kontrollierte schweigend die Messprotokolle, dann folgte sie ihr auf den Flur. Im Bereitschaftsraum fasste Chris endlich den Mut, die alles entscheidende Frage zu stellen:
»Wie sieht die Prognose aus?«
»Es wird lange dauern«, antwortete die Ärztin zögernd, »aber wir sind zuversichtlich.«
Das konnte alles oder nichts bedeuten, doch Chris mochte nicht argumentieren. Stattdessen fragte sie:
»Hassan Moussouni, liegt er auch hier?«
Die Ärztin nickte. »Gleich nebenan. Wir mussten auch ihn ins Koma versetzen nach dem massiven Blutverlust. Milz und Leber sind schwer verletzt.«
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