Hansjörg Anderegg - Station 9

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Diese Waffe ist perfekt, denn um Leben zu retten, müssen sehr viele sterben.
Konzert im Musikverein, Picknick auf dem Riesenrad, so stellt sich Chris den Urlaub in Wien vor. Die Hauptkommissarin des Bundeskriminalamts begleitet ihren Mann Jamie zum Ärztekongress. Seine Entdeckung perfektioniert die CRISPR/Cas-9 Technik und ermöglicht Gentherapien für bisher unheilbare Krankheiten. Er ist der Star auf dem Kongress, doch der endet abrupt mit einem Schock, der ganz Österreich erschüttert. Chris kehrt überstürzt nach Berlin zurück. Ermittler, die internationalen Waffenschiebern auf der Spur sind, sterben an einer Krankheit, für die es keinen Namen gibt. Sie erlebt den nächsten Schock, denn sie kennt die Symptome und erahnt die bevorstehende Katastrophe – wie Jamie.

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»Verstehe, ihm genügt die Kunst.«

»Die schöne Welt der Kunst.«

Er musterte sie verträumt und ungeniert, dass sie sich fragen musste, was er mit der schönen Welt genau meinte.

»Täuschen Sie sich nicht, Herr Gruber. Schön sind oft nur die Werke. Der Rest des Kunstbetriebs ist knallhartes Business.«

Das Stichwort Business riss ihn aus den Träumen.

»Jetzt verstehen wir uns«, unterbrach er grinsend. Er rückte etwas näher. »Glauben Sie ernsthaft, die Bilder des Kleinen könnten einen Markt finden?«

»Mit der richtigen Förderung und Connections, kein Zweifel.«

»Connections, genau! Die sind entscheidend – auch in meinem Geschäft.«

»Was ist denn eigentlich Ihr Geschäft, Herr Gruber?«

Er zögerte kurz, als suchte er das passende Wort.

»Logistik – ich besitze ein kleines Transportunternehmen. Läuft ganz gut, aber wie Sie richtig sagen: Ohne Connections geht gar nix.«

Er schwärmte so begeistert vom kleinen Geschäft, dass sie kein Wort glaubte. Vom Lieferwagen schweifte er zu Horvaths Bentley ab, dann zu seinem Traum vom Lamborghini Gallardo, in dem sie mit wehenden Haaren … Sie musste einschreiten.

»Sportwagen finde ich uncool. Ich bin eher der romantische Typ, wissen Sie.«

Bevor sein Mund zuklappte, sprach sie weiter:

»Ich muss Sie das jetzt fragen, Herr Gruber. Lorenz ist ja noch nicht volljährig, kann also keine rechtsgültigen Verträge unterzeichnen, deshalb die Frage. Haben Sie das offizielle Sorgerecht für Lorenz? Sind Sie seine rechtsgeschäftliche Vertretung?«

Die juristischen Fachausdrücke verwirrten den Kleinunternehmer Gruber. Er nickte nur stumm.

»Es geht nämlich darum, dass die Galerie Horvath gern mit Herrn Lorenz ins Geschäft kommen möchte. Zu diesem Zweck hat Herr Horvath vorgeschlagen, einen Vertrag aufzusetzen.«

»Vertrag? Was für ein Vertrag?«, fuhr Ferdl misstrauisch auf.

Sie lächelte beruhigend. »Keine Angst, es kostet Sie nichts. Es geht nur darum, die Zukunft Ihres Bruders Lorenz als Künstler zu sichern.«

Er wusste nicht, was er sagen sollte.

»Habe ich Sie jetzt erschreckt?«, fragte sie lächelnd.

»Nein – Nein – natürlich nicht. Ich bin nur etwas erstaunt, wie schnell das alles geht.«

»Ganz so weit sind wir schon noch nicht, aber Herr Horvath sagt immer: Man muss die Gelegenheit beim Schopf packen.«

»Meine Rede, Frau Elli, meine Rede. Aber ich bitte Sie, nennen Sie mich doch einfach Ferdl. Ich meine jetzt, wo wir miteinander so schön ins Geschäft kommen, wir beide.«

Er stutzte. Sein Gesicht, das sich eben noch fürs Geschäft echauffierte, fiel auseinander.

»Das darf jetzt nicht wahr sein«, seufzte er mit Verzweiflung in der Stimme, die Augen auf zwei junge Damen gerichtet. Sie steuerten in aufreizender Kleidung auf ihren Tisch zu, dem einen oder andern Herrn über fünfzig zuzwinkernd.

»Kennen Sie die Damen?«

Er brauchte nicht zu antworten. Die beiden süß parfümierten Frauen nickten ihr kurz zu, dann drückte jede Ferdl drei herzhafte Küsse auf die Wangen, bevor sie sich setzten.

»Ihr gestattet doch?«, fragte eine der Form halber, ohne eine Antwort zu erwarten.

»So, Ferdl, willst du uns deine neue Bekanntschaft nicht vorstellen?«

»Mizzi …«

Seine Stimme erstarb aus reiner Verzweiflung. Er wagte nicht mehr, sie anzusehen.

»Ich denke, wir sind uns einig, Herr Gruber«, sagte sie und erhob sich. »Ich melde mich, sobald der Vertrag aufgesetzt ist, und freue mich auf unsere Zusammenarbeit.«

Sie verabschiedete sich mit dem gleichen kurzen Nicken von den Damen und wandte sich zum Ausgang.

In der Ecke neben den Büsten von Leopold und Josefine Hawelka änderte sich der Tonfall schlagartig. Chris unterbrach die Lektüre des Kuriers. Sie würde ohnehin nichts Neues mehr erfahren, nachdem sie bereits die Presse, das Heute, die Krone und den Standard nach Informationen zum Tod von Ministerin Strasser durchkämmt hatte. Der Friede des ungleichen Paares auf der Eckbank war dahin, als die beiden etwas laut gekleideten Blondinen auftauchten. Chris fragte sich, wie sich der Stenz wohl aus der peinlichen Affäre ziehen würde. Die Blondinen schienen nichts von seiner neuen, um einiges älteren Freundin zu halten und setzten sich dreist an seinen Tisch. Sie kannten den jungen Mann offenbar sehr gut. Die Affäre ist vorbei, ehe sie richtig begonnen hat , dachte Chris amüsiert, froh über die heitere Unterbrechung ihrer düsteren Gedankengänge.

Die Affäre nahm die Handtasche, stand auf und verließ das Kaffee ohne einen Blick zurück. Nach einer Schrecksekunde sprang ihr Galan auf, wollte ihr nachrennen und prallte in den Herrn Ober.

»Der Herr möchten bezahlen?«, sagte der Kellner, unbeeindruckt von der Eile des Gastes.

Dieses Haus war voller Geschichten. Es lebte nicht nur von den Legenden, die man über das Lokal erzählte. Etwa über Leopold Hawelkas gescheiten Kommentar, nachdem er den Krieg in der Wehrmacht unversehrt überlebt hatte: Im Krieg soll man nicht ehrgeizig sein. Das Haus erzählte selbst Geschichten, erfand sie jeden Tag neu.

Die SMS von Jamie weckte sie aus ihren Träumen. In einer Stunde am Mumok. Das ließ sich einrichten. Das Museum für moderne Kunst im Museumsquartier gehörte nun mal zum Programm, auf das sie sich eingelassen hatte, ohne lange nachzudenken. Damals vor der Abreise in den ersehnten Kurzurlaub war die Vorstellung von Wien als Ort der Erholung und kulturellen Bereicherung noch intakt gewesen. Jetzt war es eine Stadt wie Berlin, in der schlimme Dinge geschahen, nichts Besonderes also.

Zeitgenössische Kunst – auch so ein Thema. Die meisten Kunstwerke erkannte man gar nicht ohne Beschriftung. Das sah sie als erwiesen an, seit sie einmal aus Versehen die Documenta besucht hatte. Aber was soll‘s , dachte sie. Jede Ablenkung war willkommen, um diesen Urlaub zu retten. Immerhin hatte Jamie wieder mit ihr zu kommunizieren begonnen nach dem Schock im Belvedere.

Die beiden Blondinen saßen allein am Tisch in der Ecke und aßen kichernd ihren Topfenstrudel, als sie das Hawelka verließ. Kaum draußen, klingelte das Handy. Haase war am Apparat.

»Langweilen Sie sich im Büro?«, fragte sie lachend.

»Ich wollte Sie nur warnen. Da braut sich etwas zusammen.«

Er sprach leise, wie hinter vorgehaltener Hand.

»Ist die Staatsanwaltschaft in der Nähe?«

»Staatsanwältin Winter hat jedenfalls schon zweimal gefragt, wann sie wieder auftauchen würden.«

»Steht doch im Kalender. Sie braucht nur den PC einzuschalten.«

»Vielleicht hat sie das Passwort vergessen. Was ich sagen wollte: Es gibt einen prominenten Toten.«

»Noch einen?«

»Wie meinen?«

»Nicht wichtig. Erzählen Sie.«

Beim prominenten Toten handelte es sich um Arno Schmitz, den Direktor des Zollkriminalamtes.

»Ungeklärte Todesursache. Die Staatsanwaltschaft glaubt nicht an einen Zufall«, sagte Haase. »Direktor Schmitz leitete die Operation Spider.«

»Sagt mir nichts.«

»Spider ist die größte Operation gegen den organisierten Waffenschmuggel, die Deutschland je auf die Beine gestellt hat.«

»Ach so – das ist was anderes. Aber was hat das mit uns zu tun?«

Die Antwort kam noch leiser aus dem Hörer.

»Ich glaube, man hat Sie im Auge für eine unabhängige Untersuchung. Direktor Schmitz ist nicht der erste Abgang bei Spider.«

Unabhängige Untersuchung stand für interne Ermittlung. Sie wussten es beide, und sie hasste solche Jobs. Kollegen bespitzeln – deswegen war sie nicht Kriminalkommissarin geworden.

»Ich bin begeistert«, murmelte sie.

»Kann ich mir vorstellen.«

»Wie ist Direktor Schmitz denn gestorben?«

»Die mauern. Ich kläre das ab. Sie kommt, ich muss auflegen!«

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