Edwin benutzt wieder seine Erdmagie und lässt eine Erdwelle in Richtung des Zornesfeldes gleiten, um zu fühlen, wo sich der Körper das Unlebenden befindet. Leicht zu finden ist der Körper nicht, der Unlebende ist halb in der Erde versunken und von Wurzeln und Ranken umschlossen, als wäre er Teil der Natur. Nachdem die beiden nun wissen, wo sich der Körper befindet, ist es jetzt an Erwin, ihn zu lösen. Er streckt den linken Arm aus und seine Seelenhand kommt aus seiner physischen Hand herausgefahren. Nun spürt Erwin auch die impulsartigen Stöße vom Zornesfeld, die seine geisterhafte Hand immer wieder zurückstoßen. Wie eine Schlange windet sich die Seelenhand nach vorne Richtung Zentrum des Zornesfeldes. Wegen des Gegenwindes ist es für Erwin sehr viel schwerer, zum Unlebenden zu kommen. Immer wieder wird von den Impulsen etwas Nebel der geisterhaften Hand weggedrückt. Doch die Hand kann nicht einfach irgendetwas greifen und sich ausruhen, da das nächste Seelenhafte in der Nähe erst der Unlebende im Zentrum der Impulswelle ist. Es braucht eine ganze Weile und kostet viel Konzentration von Erwin, sich des Zornes zu erwehren und die Seelenhand zum Unlebenden zu bewegen. Die Anstrengung und Konzentration schwächen Erwin gegenüber dem pulsierenden Zorn.
„Wo ist dieser vermaledeite Körper! Versteckt er sich absichtlich?!“, brüllt Erwin frustriert. Ihm läuft der Schweiß von der Stirn, da er keine Pause machen kann und sich der geistige Stress auch körperlich bemerkbar macht. Er bekommt Kopfschmerzen, seine Muskeln verkrampfen sich und die Glieder fangen an, weh zu tun. So hat das Zornesfeld leichtes Spiel mit ihm und er zwingt sich immer weiter Richtung Zentrum des Zornesfeldes mit seiner Seelenhand.
„Ich finde dich schon noch und dann reiße ich dich heraus! Du wirst schon sehen!“, brüllt er wieder und nach weiteren Strapazen kommt die Hand am Körper an. Die geisterhafte Hand von Erwin kann sich dann an der schlafenden Seele im Körper des Unlebenden festhalten und wird nicht mehr so leicht vom Impuls zurückgeworfen. So kann Erwin ein wenig durchatmen und entspannen, bis er sich wieder soweit konzentrieren kann, um die Seele aus dem Körper zu ziehen.
Das entpuppt sich auch nicht direkt als leichte Aufgabe. Erwin zieht, zerrt und hebelt mit der Geisterhand an der Seele im Körper, um sie von diesem zu lösen. Als die Seele nicht gleich aus dem Körper herauskommt und Erwin sich auf die Lösung konzentriert, zerrt das Zornesfeld wieder an seinen Nerven. Er wird ungeduldig und hastig und fängt an, ruckartig an der Seele zu ziehen.
„Komm jetzt heraus! Oder gefällt es dir hier etwa so gut?! Heute nehme ich dich mit!“, brüllt er wieder und braucht alle Konzentration und Erfahrung, die er als Löser hat, um Erfolg zu haben, aber der Zorn lässt ihn von Moment zu Moment der Seele gegenüber rücksichtloser werden. Schließlich löst sich die Seele mit einem Ruck aus dem Körper heraus. Im ersten Augenblick schwebt die Seele unkontrolliert umher und gleitet auch durch den roten Orb, der das Zentrum des Zornesfeldes darstellt. Das können die Brüder von ihrer Position nicht sehen, denn die Hand geht durch die fingerartigen Bäume. Der Seelensammler hält die Seele an der Schulter fest in seiner geisterhaften Hand, als er diese zurück zu sich zieht. Es sieht aus, als würde ein Seil zurück auf die Winde gezogen werden, bis die Seele direkt vor ihm schwebt, immer noch in seinem Griff. Etwas ist im ersten Moment seltsam mit der geisterhaften Gestalt, doch die Brüder wollen nicht noch mehr Zeit in der Nähe dieses Zornesfeldes verbringen. Die Seele wird kurzerhand in ein Riaberan gepackt. Dann gehen die Zwillinge denselben Weg zurück, den sie gekommen sind, bis sie wieder vor dem Wald stehen und sich zurück zum Weg orientieren. Erst als sie wieder auf Kies stehen, legen sie sich rücklings auf den Boden, schließen die Augen und lassen die zornerfüllten Gedanken weichen.
Sie verdrängen den Zorn mit angenehmen Gedanken mit Erinnerungen an fröhliche Abende, Feiern mit Freunden und Spaß auf Festen. Erst als ihre Herzen sich wieder beruhigt haben, stehen sie auf und gehen den Weg in die Stadt Oradi zurück.
Der Himmel ist orange und die Sonne geht gerade unter, als sie zurück in der Stadt sind. Die Brüder wollen gleich zum Bürgermeister Hadien, um ihm von ihrem Erlebnis zu berichten. Am Amtshaus angekommen, kommt ihnen der Bürgermeister auch schon entgegen.
„Verzeiht, werte Löser, doch ich muss noch dringend zu einer Besichtigung. Geht bitte zu Rogu, er wird Euch die Luxon für den Tag geben“, gibt er den beiden kurz angebunden zu verstehen und geht dann weiter. Die Zwillinge gehen zur Tür und Rogu lässt sie hinein. Er händigt ihnen die 15 Luxon für den Tag auf Bereitschaft aus und bittet sie, den Bürgermeister morgen noch mal aufzusuchen.
Den Brüdern soll das ganz recht sein, doch haben sie den restlichen Tag nichts mehr zu tun. So haben sie noch viel Zeit, mit der sie nicht viel anzufangen wissen. Üblicherweise sind sie immer beschäftigt und unterwegs. Anstatt jetzt nichts mehr zu tun, beschließen die beiden, sich der Seele anzunehmen, die sie im Wald mitgenommen haben. Die Zwillinge kennen in der Stadt nur einen Ort, an dem sie allein und ungestört sind. So machen sie sich gleich auf zur Unlebenwacht.
In der leeren Unlebenwacht angekommen, ist es inzwischen dunkel geworden. So erschafft Edwin eine Flamme in seiner Handfläche. Seine Hand verbrennt nicht, da das Feuer den Brennstoff aus der magischen Kraft bezieht, die er aus seiner Handfläche ausströmen lässt. Nachdem die Brüder nun Licht haben, beschwört Erwin die Seele aus dem Wald aus ihren Riaberan. Diese Seele kommt nicht in dampfendem, geisterhaftem Nebel aus dem Gefäß, sondern schlängelt sich heraus und wird immer größer. Nun sehen die Zwillinge auch, was ihnen schon anfangs im Wald seltsam vorgekommen ist. Diese Seele ist im Gegensatz zu anderen Seelen vollkommen, nicht nur eine Büste. Es ist alles da, Kopf, Torso, Arme und Beine. Das Geschlecht der Seele ist wie bei allen anderen nicht zu ermitteln, da Seelen keine Haare und keine Geschlechtsteile haben. Erwin versucht, mit der geisterhaften Gestalt vor ihm zu reden.
„Sei gegrüßt, wie ist dein Name?“ Erwin fragt laut und deutlich, doch die geisterhafte Gestalt sieht nur auf ihn herab.
„Verstehst du mich? Kannst du sprechen?“, fragt er weiter, doch es kommt keine Reaktion. Die Seele schwebt und beobachtet die beiden einfach nur. Die Zwillinge kratzen sich an den Köpfen und wissen nicht recht, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Bisher konnten sie mit jeder Seele, die sie lösen konnten, auch sprechen.
Während die Brüder noch überlegen, wie sie sich verständigen sollen, bemerken sie, wie sich die Seele im Raum umsieht und sich selbst auf die Hände schaut.
„Bist du dir deiner Existenz bewusst? Jetzt bist du eine Seele, du bist sehr lange Zeit ein Unlebender inmitten eines Zornesfeldes gewesen“, sagt Erwin, als er merkt, dass sich die Seele ihres Zustandes möglicherweise gar nicht bewusst ist.
„Dieses … Gefühl … ist seltsam … ich erinnere mich … an nichts. Ich fühle … etwas … doch ich … kann nicht sagen … was es ist“, antwortet die Seele plötzlich. Leider wissen die beiden Löser mit der Aussage nichts anzufangen. Doch sind sie froh, sich mit der Seele verständigen zu können.
„Du warst vermutlich eine sehr lange Zeit in diesem Wald und unter einem Zornesfeld, das die ganze Zeit pulsiert hat. Das würde an niemandem spurlos vorübergehen, es könnte deinen Verstand beeinflusst haben. Deine Erscheinung und dein Verhalten sind untypisch, hast du eine Erklärung dafür? Du kannst dich vielleicht nicht an alles erinnern, doch vielleicht an einzelne Dinge?“, fragt der Seelensammler hektisch nach, der, da er nun ein Gespräch mit der Seele hat, auch Antworten erwartet.
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