Mutter stand neben ihm, mit ihrem Flüchtlingsgesicht. Das schwere schwarze Haar wallte auf ihre Schultern hinunter. Sie war mit mir schwanger, das blaue Seidenkleid spannte überm Bauch, als hätte sie einen Globus darunter versteckt. Sie hielten sich bei der Hand. Vielleicht war das der Grund, warum sie so seltsam hilflos aussahen.
Ich muss es in Einklang bringen. Mutters Brustwarzen, die an meinen Handflächen scheuerten. Und den Wolfspelz, der sie in die Arme genommen hatte, bevor er jemand anderen umarmte. Und Vaters Rückgrat, das einem Fragezeichen glich.
Ich höre Lechs Schritte. Er kommt zu mir, legt die Arme um meine Schultern. Und ich lehne mich zurück, lege den Kopf an seine Brust. »Ich habe mit dem Schreiben angefangen«, sage ich.
Stuttgart, den 24. November 2007
Während wir zum Kühlraum gingen, redete der Diensthabende ununterbrochen. Ich erinnere mich nicht mehr, was er sagte, nur an sein Sächsisch. Dieses Blöken, hätte Mutter gesagt. Mutter aber gab es nicht mehr. Sie war am Tag zuvor gestorben, hatte einen Herzinfarkt erlitten. Ich war nicht rechtzeitig da gewesen. Von Stockholm nach Stuttgart zu fliegen erfordert Zeit.
Als ich im Krankenhaus ankam, lag Mutter nicht mehr auf der Intensivstation. Man hatte sie bereits fortgebracht. Es war obendrein Samstag, nur ein Angestellter hatte Dienst, ein blasser Mann mittleren Alters mit schütteren dunklen Haaren, auch auf den Handrücken. Er habe es nicht geschafft, Mutter für das Verabschiedungszimmer zurechtzumachen, sagte er. Da ich aber Ärztin sei, könne ich sie trotzdem sehen. Als Arzt sei man schließlich an den Tod gewöhnt, nicht wahr? Als würde das helfen, wenn es darum ging, die eigene Mutter tot zu sehen.
Boden und Wände des Raums waren gefliest. Die Leuchtstoffröhren an der Decke warfen ein scharfes Licht. Als müsste alles klar und deutlich zu sehen sein, all die Kühlzellen aus glänzendem Metall, dreifach übereinander gefügt, mit nummerierten, leicht austauschbaren Namensschildern. Mutter lag in einem der oberen Fächer. Der Diensthabende fuhr eine gabelstaplerähnliche Vorrichtung heran, mit der man die Toten aus ihren Fächern zog.
Der Gabelstapler rasselte und quietschte, als sich seine Metallarme in Bewegung setzten. Am Ende schaffte er es, in Mutters Fach und nach der Bahre zu greifen. Worauf diese sich ebenso rasselnd und quietschend senkte. Seitdem weiß ich, es gibt Geräusche, die schneiden einem ins Herz.
Auf der Bahre lag ein schmächtiger Körper, der Puppe eines Schmetterlings ähnlich, umhüllt von einem Laken. Der Diensthabende zerrte den Fuß der Puppe hervor und kontrollierte, was auf dem Schild stand, das am großen Zeh hing. Dann schlug er das Laken mit Schwung zurück und ging. Er wolle nicht stören, sagte er.
Es war ein Kinderkörper, der dort lag, mit spindeldürren Armen und Beinen. Überhaupt keine Brüste, nur kleine, starre Brustwarzen unter dem Krankenhaushemd, bei einer Berührung wie Nagelköpfe. Und das Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis ich es anschauen konnte. Lech hatte einmal gesagt, wer ein Flüchtlingsgesicht bekommen habe, werde es sein Leben lang mit sich herumschleppen müssen. Er sagte nicht, dass es das letzte Gesicht eines Menschen sein kann. Als ich es nun vor mir sah, musste ich mich auf den Boden setzen und die Arme um die Knie schlingen.
Ich saß auf dem Rücksitz im Taxi, unterwegs zu einem Hotel. Es war unmöglich, vom Krankenhaus sofort in Mutters Wohnung zu fahren. Man ist vollkommen schutzlos, wenn man auf dem Boden eines Kühlraums gehockt hat.
Der Taxifahrer, ein älterer Ausländer, spielte arabische Musik, bei der eine Frauenstimme von einem hitzigen Saiteninstrument gejagt wurde. Er hielt das Steuer fest umklammert, saß vorgebeugt da und starrte auf die Fahrbahn. Es regnete leise. Der Asphalt glänzte. Das graue Novemberlicht hatte alles mit einer bleiernen Schicht überzogen.
Es war zweieinhalb Monate her, dass ich Mutter zuletzt gesehen hatte. Ich wollte den Zug nach Echterdingen nehmen, zum Stuttgarter Flughafen. Wir standen auf dem Bahnsteig der S-Bahn, und ich ahnte nicht, dass es unsere letzte Begegnung war. Mutter sah aus, als würde sie frieren, obgleich es warm war. Sie hatte die Schultern hochgezogen und die Hände in den Taschen ihrer schwarzen Strickjacke vergraben. Der Stoff ihrer dunkelroten Seidenhose flatterte wie ein Segel am Mast. Wir standen wortlos da, so als wäre bereits alles besprochen. Dann sagte sie plötzlich, vielleicht nicht einmal zu mir: »Könnte mich doch jemand umarmen.«
Und ich legte die Arme um sie, doch bekam ich ihren Körper nicht zu fassen. Oder war mein eigener Körper ausgewichen? Ich erinnere mich nicht daran, nur an Mutters Duft. Sie duftete nach Lavendel, wie immer. Im Kühlraum jedoch nicht. Da roch sie nach Tod, Mutters eigenen Worten zufolge der schlimmste Geruch, den es gibt. Der bleibt immer und ewig haften, lässt sich nie abwaschen, hatte sie gesagt.
Ich fragte den Taxifahrer, woher er komme. Aus der Türkei, sagte er, aus einer Stadt in den Bergen, die Van heiße.
Ich fragte, wie Van aussehe.
Er wisse es nicht, sagte er, das, was er gekannt habe, sei durch ein großes Erdbeben zerstört worden. Alles, außer dem See. Der See sei blau und friere nicht zu, nicht einmal im Winter, obwohl es eisig kalt werden konnte, das Wasser sei so salzig, salziger als menschliche Tränen.
Er schwieg. Ich ebenfalls und auch die singende Frau. Nur das Saiteninstrument spielte triumphierend weiter, als hätte es über etwas gesiegt, was auch immer das sein mochte. Mir fiel auf, dass ich meine Knie erneut umschlungen hielt.
Ich bekam ein Hotelzimmer im siebzehnten Stock. Es hätte überall liegen können: dasselbe anonyme Design wie in Chicago oder Shanghai. Man konnte weit blicken, nirgendwo aber gab es einen Fluss. Nur Häuser in Reihen, angetreten wie zur Verteidigung. Und die Autowerke am Rand der Stadt, größer als früher, wie eine hemmungslos wachsende Geschwulst, mit Schornsteinen, die Rauch in den Himmel bliesen. Säße Gott da oben, würden ihm die Augen brennen, hatte Vater einmal gesagt. Vater aber war tot, so wie Mutter. Ich war ein elternloses Kind.
Ich zog mich aus und duschte. Doch schon vorher war mein Gesicht nass.
Dann legte ich mich aufs Bett, nackt, in ein weißes Handtuch gewickelt. Ich sehnte mich nach Lech, ich hätte Ja sagen sollen, als er mich herbegleiten wollte. Hätte ihm die Schornsteine mit ihrem ewigen Rauch zeigen sollen. Und ihm erzählen sollen, dass alle, die hier wohnten, sich ein bisschen schwarz färbten.
Mutter ist in Ostpreußen geboren, auf einem Hof nahe Pieniężno, das damals Mehlsack hieß. Ihre Geburt war für diesen Tag noch nicht geplant, doch ein durchgegangenes Pferd hatte ihre Mutter erschreckt. Das erklärt alles, sagte Mutter immer. Ich habe nie gefragt, was sie damit meinte.
Manchmal sagte Mutter, ich sei ihr Ein und Alles. Und dass Waldstadt, wo wir in meiner Kindheit wohnten, eine Strafe für sie sei. Man sei zwischen steilen Bergen eingeklemmt. Das sei nicht wie in Ostpreußen, wo man sich frei und leicht bewegte. Dort gab es eine sanft gewellte Landschaft, die Gott mit streichelnder Hand geformt hatte, darüber einen weiten Himmel an einem schimmernden Meer. Anschließend hatte er alles mit goldenem Licht übergossen. Vielleicht war das Pferd vom goldenen Licht geblendet worden. Weshalb sonst sollte man in einem gelobten Land durchgehen, das Ostpreußen nach Mutters Worten war.
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