Mir kam ein Gedicht von Lars Gustafsson in den Sinn. An Seen könne man, wenn das Eis aufbricht, »den dunklen, rätselhaften Klang von tief im Wasser versunkenen Kirchenglocken« hören. Obgleich das hier keine Kirchenglocken waren; es war etwas anderes, als ob der See ein Herz hätte, das schlägt.
Die Töne waren die ganze Nacht zu hören. Man wurde leicht dünnhäutig davon. Es nützte nichts zu wissen, dass Eis bei starkem Temperaturwechsel reißen kann, dass Risse, die das Eis durchziehen, winzig kleine Risse, das Eis zum Vibrieren bringen, wodurch Töne entstehen. Mal um Mal wachte ich auf, und es fiel mir schwer, wieder einzuschlafen. Wie gut wäre es gewesen, wenn Lech hier gewesen wäre.
Als es hell wurde, war das Herz des Sees verstummt. Ich stand auf und trat ans Fenster. Das Eis leuchtete weiß.
Auf der Fensterbank lag das Handy mit einer SMS von Lech. Er war in der Nationalbibliothek gewesen, schrieb er, und hatte die hundert Pinienbäume gesehen, die vom Forêt de Bord dort hingebracht worden waren. Sie sollten zwischen den Sälen voller Bücher einen Wald bilden, doch erinnerten sie sich nicht mehr daran, was ein Wald war. Und die vielen Menschen, die über die Bücher gebeugt dagesessen und nach Antworten gesucht hätten. Wie gut wäre es gewesen, wenn ich da gewesen wäre.
Nach dem Frühstück unternahm ich einen Spaziergang zu dem Hügel, auf dem im Mittelalter ein Dorf gelegen hatte, mit weiter Aussicht über den See. Ich stand zwischen den Mauerresten, die aus dem Schnee ragten. Was hatten die Dorfbewohner getan, wenn sie das Herz des Sees hörten? Nichts war mehr übrig von ihren Gedanken, ihren Gefühlen, ihren Träumen, ihren Ängsten. Nur ein paar Mauerreste im Schnee.
Ich ging weiter. Der verharschte Schnee auf den Feldern trug. Als ich zu der eichenbestandenen Landzunge kam, begegnete mir ein Mann mittleren Alters mit einem Gewehr. Wir blieben stehen und wechselten ein paar Worte über die Töne des Sees. Er hatte sich einen Whisky genehmigen müssen und den Fernseher lauter gestellt. Dann sprachen wir über die Jagd. Die Damhirsche brächten nichts, sagte er, sie seien ausgehungert, schafften es kaum zu fliehen. Das sei keine Jagd, nur reines Gemetzel. Dann ging jeder von uns in seine Richtung weiter. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihm viel Glück gewünscht habe.
Stuttgart, den 28. November 2007
Das, was erledigt werden musste, hatte ich erledigt. Jetzt wollte ich nach Hause fliegen, saß aber auf dem Flughafen fest. Es war, als wollte Stuttgart mich nicht freigeben. Man hatte einen Fehler an der Maschine entdeckt, den man nicht beheben konnte, und bemühte sich nun, einen Ersatz zu beschaffen, das aber konnte dauern. Als die Mitteilung über den Lautsprecher kam, war ich der Panik nahe.
Stattdessen versuchte ich zu lesen, die erste Seite in Kafkas gesammelten Erzählungen. »Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Weide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.«
Und eine Erinnerung stellte sich ein. Lech und ich saßen in der Dämmerung am Meer, an Mutters schimmerndem Meer, doch auf unserer Seite. Das Wasser glich flüssigem Gold, und der Himmel hatte einen seltsamen Glanz. Eine Schar Wildgänse flog heiser rufend über uns hinweg. Wir saßen da, ohne ein Wort zu sagen. Mitunter versteht man alles, auch wenn man nicht sagen könnte, was es ist.
Lechs Hand lag auf meinem Knie. Und ich schaute ihn an. Er hatte das schönste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Er sah aus wie ein Indianer.
Vielleicht werden wir alle als Indianer geboren, die zur Erde gehören und zum Himmel. Und zu Wasser und zu Wind. Und zu allem, was gelebt hat und was lebt und leben wird. Dann trennt man uns ab, jedenfalls die meisten von uns. Mutter wurde von allem getrennt. Bis sie zum einsamsten Menschen der Welt geworden war.
Ich hatte ihren Hut mit der kleinen Feder mitgenommen. Und das schreckliche Kruzifix. Und die Andachtsbildchen, jedes einzelne. Und ihren Schmuck, bei dem kein einziges Stück aus Bernstein war. Und eine kleine grüne Schnitzelmaschine für Bohnen.
Mutter zog Bohnen in unserem Garten. Sie ließ sie so wachsen, dass sie eine Art Laube bildeten. War es heiß, saß Vater dort und spielte Waldhorn. Man konnte glauben, die Bohnenlaube selbst erzeugte Töne. Und Mutter kam beim Unkrautjäten aus dem Konzept. Sie kniete mit erdigen Händen zwischen den Beeten und lauschte. In ihrem Gesicht erschien so etwas wie ein Schimmern. Vielleicht war es Vaters Spiel gelungen, ihr Meer hervorzulocken. Oder einen Fluss in Ohio – einen Fluss auf der Rückseite eines Hauses –, in dem sich alle Sterne des Himmels spiegelten und von dessen Existenz ich damals nichts wusste.
Die Lautsprecherstimme informierte uns, dass ein Flugzeug von Düsseldorf hierher unterwegs sei. Eine junge Frau mit einer Piercingperle in der Zunge und mit kurz geschnittenen blonden Haaren zerrte ein Handy aus der Tasche und sprach kichernd hinein, während sie sich hingestreckt wie eine Katze im Plastiksessel rekelte. Neben ihr saß eine ältere Frau mit breiten Hüften und fußgerechtem Schuhwerk und klammerte sich an ihrer Handtasche fest, als wäre sie ihr Rettungsring. Und ein Mann mittleren Alters in Schlips und Anzug lief weiter ruhelos hin und her wie ein Panther im Käfig.
Mir gegenüber saßen ein paar Männer und Frauen mit schmalen, leichten Körpern. Sie sahen aus, als gehörten sie einem Ballettensemble an. Mit leiser Stimme führten sie ein Gespräch in einer slawischen Sprache, als eine von ihnen aufstand, eine junge, schöne Frau mit hochgestecktem blondem Haar. Sie ging mit schwebenden Bewegungen umher, als hätte die Schwerkraft all ihre Macht verloren. Plötzlich löste sich eine Locke aus ihrer Frisur und fiel auf ihr Ohr hinunter, und mit zarter Hand strich sie dieselbe zurück. Und alle um sie herum blickten auf ihr Ohr, als wäre es der Mittelpunkt der Welt, auf ein kleines, nacktes rosafarbenes Ohr mit vollendeten Windungen. Auch ein junger, schwarz gekleideter Mann der Gruppe, der aufgestanden war und ihr folgte, starrte das Ohr wie gebannt an.
Und alles andere hörte auf: das ruhelose Hin- und Herlaufen, das Lesen und das Sprechen. Auch die Schwebende verharrte, mitten im Schritt, mitten in der großen Wartehalle. Und der Gebannte kam mit seiner Hand, langsam, als wäre das Ohr ein Magnet, der die Hand anzog. Während sie vollkommen still dastand, umgeben von einem Schimmern.
Ich fühlte mich plötzlich ruhig, obgleich Stuttgart seinen Griff nicht lockern wollte und obgleich Mutters Beerdigung noch ausstand. Ich war unterwegs nach Hause. Nach Hause zur Insel. Nach Hause zu Lech.
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