Nun aber war der Opa ein Pflegefall. Eines Morgens war er aus dem Bett aufgestanden und unversehens gestürzt. Er hatte sich nichts gebrochen, aber er kam nicht mehr auf die Beine. Im Spital hatte man ihn durchgecheckt, Indizien für einen Gehirnschlag hatte man angeblich nicht entdeckt, aber als man ihn wieder nach Hause gebracht hatte, brauchte er buchstäblich für alles Hilfe .
Er hatte zwei Pflegerinnen, die ihn abwechselnd betreuten. Rund um die Uhr, wohlgemerkt, zwei Wochen im Monat die eine und zwei Wochen im Monat die andere. Zwei Slowakinnen, die Papa, wie er oft nebenbei erwähnte, weit über den Tarif bezahlte. Mein Vater, der anfangs noch öfter vorbeischaute, um zu sehen, ob alles klappte und mit Zdenka und Rosa, so hießen die beiden, die pünktliche Verabreichung der Sedativa zu besprechen, die dem Großvater seiner Ansicht nach guttaten, aber dann, als der Krieg zwischen Mama und ihm ausgebrochen war, immer weniger .
Mama hatte Besuche bei ihrem kranken Schwiegervater schon vorher kaum ertragen. Der arme alte Mann tat ihr so leid, dass sie seinen Anblick einfach nicht aushielt. Und seinen Geruch. Der Großvater wollte ziemlich häufig aufs Klo. Ihn dorthin und wieder zurückzubringen war zwar eine Aufgabe, die von den Slowakinnen erledigt wurde, sowohl von Zdenka als auch von der etwas weniger robust gebauten Rosa, aber selbst wenn man da diskret wegsehen konnte , wegriechen konnte man nicht .
Jetzt, da ich öfter vorbeikam, versuchte ich ihn von der Konzentration auf seinen Stuhlgang abzulenken. Manchmal gelang das sogar. Er hatte eine Reihe von DVDs mit Aufnahmen der Sendung Universum. Einmal, als wir eine Folge ansahen, in der die Kameraleute Löwen an der Tränke beobachtet hatten, die in der grellen Sonne blinzelten, fragte er mich, ob ich glaubte, dass man Raubtieren Brillen verschreiben könnte. Er war ja früher Augenarzt gewesen .
Aber warum sollte Lisa das dem Herrn Roch erzählen?
Sie schrieb es. Für sich. Sie konnte ja schreiben, was sie wollte.
Später würde sie vielleicht mehr darüber schreiben.
Doch den Herrn Roch ging das überhaupt nichts an.
Sie fing an, die Graffiti zu notieren, die sie auf dem Weg von der Straßenbahn zum Café oder vom Café zur Straßenbahn las:
No borders. Freiheit für alle. Kein Mensch ist illegal
Manche waren nach einer Weile übertüncht, aber wenn man wusste, was da gestanden hatte, konnte man es noch eine Zeitlang erahnen.
Leben statt funktionieren. Let’s dance, baby .
Entschuldigung, sagte der Herr Roch, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten … Ob Sie schreiben oder nicht schreiben, das ist natürlich Ihre Angelegenheit … Und erst recht, was Sie schreiben. Gar keine Frage! … Ich hab nur gedacht, wenn Sie womöglich selbst schreiben, nur einmal angenommen …
Als ob er sie mit diesen Floskeln einkreisen wollte.
Also nur einmal angenommen, sagte er, gesetzt den Fall … Dann wären Sie für den Job, den ich Ihnen anbiete, ganz besonders qualifiziert. Um nicht zu sagen – und vor diesem Wort ließ er eine effektvolle Pause – prädestiniert.
Jetzt hören Sie aber auf! sagte sie.
Aber das meine ich ernst! sagte er. Sie sind die Person, die mir helfen kann, den Jahrhundertroman endlich in den Griff zu bekommen. Eine Person, die nicht nur flott auf dem Laptop tippt, sondern …
Sondern was?
Sie sind auch eine Person, die dieses Projekt interessiert.
So, sagte sie.
Ja, sagte er. Oder interessiert es Sie etwa nicht?
Was sollte sie sagen? Sie wollte nicht unhöflich sein.
Ja klar, sagte er, bevor ihr eine ausweichende Antwort einfiel. Sie können sich halt noch zu wenig darunter vorstellen.
Von da an versuchte er ihr zu erklären, was es mit dem Jahrhundertroman auf sich habe. Das war allerdings nicht so einfach, denn er holte recht weit aus. Und das führte dazu, dass er manchmal unterbrochen wurde. Das Café Klee hatte nach wie vor nicht viele Gäste, aber einige, um die sie sich zu kümmern hatte, kamen doch.
Dass Herr Roch dann nicht weiterredete, lag aber nicht nur daran, dass sie sich vorübergehend von seinem Tisch entfernen musste. Er verstummte, so kam es ihr vor, durch jede dieser Unterbrechungen verstimmt. Als ob es eigentlich eine Zumutung wäre, dass Personen, die das, was da zwischen ihm und ihr zu besprechen war, nichts anging, einfach in ihr Gespräch hereinplatzten. Vielleicht war es aber auch so, dass er, wenn er in seinen Ausführungen gestört wurde, irritiert war und vergaß, was er gerade zuvor hatte sagen wollen.
So viel bekam sie trotzdem mit, dass er die Idee des Jahrhundertromans schon lang mit sich herumtrug. Eigentlich, sagte er, seit dem Jahr 1999. Am 1. Jänner 2000 habe er sich hinsetzen und mit dem Jahrhundertroman anfangen wollen. Und das habe er auch tatsächlich getan, aber dann sei ihm Verschiedenes dazwischengekommen.
Zwar habe er sich, sagte Roch, nicht entmutigen lassen. In immer neuen Anläufen habe er versucht, den Jahrhundertroman in Schwung zu bringen. Aber da habe es nicht nur Probleme gegeben, die mit seinem persönlichen, in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts ein wenig entgleisten Leben zusammenhingen (einmal ganz abgesehen von den Problemen, die sich durch seine, wie er es nannte, kleine Behinderung ergaben). Es gab auch Probleme, die, wie er betonte, im Wesen des Projekts lagen.
Das Wesen seines Projekts! Wenn er so redete, ging er ihr wieder recht auf den Geist. Vor allem weil er nie klarmachen konnte, worin dieses Wesen eigentlich bestand. Ach was, dachte sie dann, warum hör ich mir das überhaupt an? Und trotzdem schaffte er es, sie immer wieder an seinen Tisch zu locken.
Und dann, eines Nachmittags, kam es zum Eklat. Das war an einem Mittwoch, als die Chefin früher als erwartet aus dem Sonnenstudio zurückkam. Für gewöhnlich briet sie dort bis 17 Uhr. Aber da hatte es einen Stromausfall gegeben, der zum Frust der Kunden an diesem Abend nicht mehr behoben werden konnte, und so war die Frau Resch, als sie die Tür öffnete und auf einmal im Raum stand, in dem Roch und Lisa bis dahin zu zweit gewesen waren, ohnehin schon ziemlich geladen. Diesen Zusammenhang begriff Lisa allerdings erst später. Im Moment überraschte sie die Heftigkeit der Reaktion. Habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie haben sich nicht zu den Gästen zu gesellen, rief ihre Arbeitgeberin erstaunlich schrill, augenblicklich kommen Sie mit mir in die Küche! Und wenn Sie, Herr Roch, mir die Lisa nicht in Ruhe lassen, kriegen Sie Lokalverbot!
Ich weiß schon, sagte Roch, als Frau Resch das nächste Mal weg war, Ihre Chefin will nicht, dass Sie sich mit mir abgeben. (Das war an einem Monatsersten. Vormittags. Da musste sie auf die Bank.) Sie ist mir nicht wirklich gewogen, die Madam. Sie hält mich für einen Scharlatan oder weiß der Teufel, wofür sie mich hält.
Er schnaubte empört, suchte in seinen Sakkotaschen nach einem Taschentuch und schnäuzte sich.
Oder sie bildet sich ein, ich mach Sie ihr abspenstig. Aber das fällt mir doch überhaupt nicht ein! Ich will mich doch nicht um das Vergnügen bringen, von Ihnen meine Melange und mein Frühstücksei serviert zu bekommen.
Er trank einen Schluck Kaffee und begann sein Ei aufzuklopfen.
Aber damit, sagte er, muss es doch nicht sein Bewenden haben. Lisa! Sie sind doch eine sensible Person. Sie sind die, die mir helfen kann, das habe ich Ihnen gleich angesehen.
Angesehen? sagte sie. Und wie sehen Sie so was?
Er nahm die Brille ab und putzte sie. Sie meinen: Mit diesen schlechten Augen?
Nein, entschuldigung, sagte sie. So habe ich es nicht gemeint.
Schon recht, sagte er, Sie müssen das nicht zurücknehmen. Ich bin nicht ganz so heikel, wie Sie glauben.
Er setzte die Brille wieder auf. So viel ist wahr: Ich würde Sie gerne besser sehen. Aber vielleicht ist es so: Manche Defekte, mit denen man leben muss, kann man mit der Zeit ein bisschen ausgleichen. Wenn man weniger sieht, spürt man vielleicht mehr. Also vielleicht hab ich es eher gespürt als gesehen, dass Sie, liebes Fräulein Lisa, etwas anders sind – ja, besser kann ich es nicht sagen – etwas anders .
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