Sie glaubt, die Berührung gespürt zu haben, aber vielleicht hat sie sich das nur eingebildet. Jedenfalls ist der Zipp, als sie ihn kontrolliert, ganz ordentlich geschlossen.
Und selbst wenn wirklich ein Taschendieb sein Glück versucht hätte – für die sperrige, schwarze Mappe mit dem Manuskript hätte er sich wohl kaum interessiert.
Die erste Lieferung zum Jahrhundertroman . Passen Sie gut darauf auf, hat Roch gesagt, es ist das Original. Zwar habe er versucht, es fotokopieren zu lassen, aber die Fotokopien, die man ihm im Copyshop angefertigt hat, erschienen ihm zu blass. Und sie solle den Text ja möglichst gut lesen können.
Und dann, stell dir vor, Semira: Dann sitz ich an meinem Schreibtisch in meinem WG-Zimmer. Über dem Manuskript, das mir dieser Roch am Nachmittag anvertraut (so seine Worte) oder aufgebürdet hat (so mein vielleicht doch nicht ganz falscher Eindruck). Aber nun, nachdem ich die Einladung, mich doch zu den anderen zu setzen, wieder einmal ausgeschlagen hab (sie sitzen draußen im Gemeinschaftsraum, öffnen eine Flasche Bier nach der anderen und reden über irgendetwas, das sie offenbar urlustig finden, denn sie lachen viel), nachdem ich also die Einladung, mich am Gemeinschaftsleben zu beteiligen, wieder einmal ausgeschlagen hab … sitz ich da über diesem Konvolut, auf das ich inzwischen doch auch etwas neugierig bin, und – kann kein Wort lesen .
Und da muss ich mir eine Zigarette anzünden, obwohl ich mir vorgenommen hab, mir das Rauchen abzugewöhnen. Ich versuch, Seite für Seite zu lesen, denn vielleicht, denk ich, wird die Schrift ja nach und nach leserlicher. Oder meine Augen werden sich daran gewöhnen. Ich gebe mir wirklich Mühe, aber es nützt nichts .
Und ich rauch mir eine zweite Zigarette an und dann noch eine. Und frag mich, in welcher Schrift dieser Herr Roch überhaupt schreibt – möglicherweise handelt es sich um einen Mix aus Latein und Kurrent (eine Schrift, die ich ja eigentlich nur vom Hörensagen kenne). Ich rauch weiter und dann muss ich den Aschenbecher ausleeren, in dem schon erstaunlich viele Kippen sind. Mit der Schrift, die ich in der Schule gelernt hab, sind die Zeichen, die ich da zu entziffern versuche, jedenfalls nur sehr entfernt verwandt .
Dazu kommt, dass die Zeilen, die der Verfasser schreibt, manchmal völlig entgleisen .
Rein grafisch betrachtet sieht das recht interessant aus. Auch aus psychologischer Sicht kann man das Schriftbild wahrscheinlich interessant finden. Aber fortlaufend lesen und somit abtippen kann man das nicht .
Oder jedenfalls kann ich das nicht. Beim besten Willen nicht, da besteht keine Chance. Zu diesem Ergebnis bin ich etwa um Mitternacht gelangt. Bis dahin hat sich der Aschenbecher zum zweiten Mal gefüllt und ich hab keine Zigaretten mehr .
Und dann kommt Ronnie herein. Natürlich wieder einmal, ohne anzuklopfen .
Ich hab gesehen, dass bei dir noch Licht brennt, sagt er, was treibst du?
Mein erster Impuls ist, ihn gleich wieder aus meinem Zimmer hinauszuwerfen, das er gefälligst als meinen Privatbereich respektieren soll. Doch ich beherrsch mich und werf ihn nicht hinaus .
Hast du eine Zigarette für mich? frage ich .
Ja, sagt er, aber nur von den roten Gauloises .
Ich rauche für gewöhnlich die leichteren, gelben, aber das ist mir jetzt egal .
Schau einmal, sage ich. Kannst du irgendwas von diesem Text lesen?
Das ist ja ein Ding, sagt er. So etwas gibts ja eigentlich gar nicht!
Und dann? Ja, und dann bin ich halt wieder rückfällig geworden. Nicht nur nikotinmäßig. Es hat sich so ergeben. Zuerst sind wir noch ganz ernsthaft über dem Manuskript gesessen und haben versucht, vielleicht doch noch den einen oder anderen Absatz zu entziffern. Aber als auch die Zigaretten ausgegangen waren, die Ronnie in der Jackentasche gehabt hat, da hat er noch eine Packung aus seinem Zimmer geholt und dazu ein Fläschchen mit einem Rest Schnaps mitgebracht, der von irgendeiner Party übriggeblieben ist, und dann haben wir das Manuskript und die Tatsache, dass wir auch zu zweit nicht schlau daraus geworden sind, immer komischer gefunden und haben fast nur mehr gelacht .
Und dann sind wir eben auf einmal im Bett gelegen. Und das war wieder einmal nicht ganz das, was ich dumme Gans mir immer wieder einbilde, dass es sein sollte. Am Anfang – na ja, da hab ich mir gesagt, okay, warum nicht, ich bin zwar ein bisschen beschwipst, aber das hilft vielleicht. Aber im Endeffekt war es erst recht ernüchternd .
Bin dann kurz eingeschlafen, aber bald wieder aufgewacht. Und da ist Ronnie immer noch neben mir gelegen und hat unverschämt viel Platz eingenommen. Und ich hab mir gedacht, wie kommt er dazu und wie komm ich dazu und was war das jetzt? Und dann hab ich nicht mehr einschlafen können, nicht nur, weil Ronnie zu allem Überfluss geschnarcht hat, sondern auch, weil ich wieder an Roch hab denken müssen und mich ständig aufs Neue gefragt hab, was ich ihm antworten soll, wenn er mich morgen Vormittag im Café auf sein Manuskript anspricht, denn das wird er sicher tun .
Das ist die Lage, Semira. Eindeutig eine Schräglage, nicht wahr? Und ich weiß noch nicht recht, wie ich wieder ins Lot komm. Was hältst denn du davon? Hast du vielleicht einen guten Rat für mich? Ich halte dich auf dem Laufenden. Ciao, du Liebe .
Am Morgen rief Lisa dann die Chefin an. Heiser vom ungewohnt vielen Rauchen und Trinken. Tut mir leid, sagte sie, aber ich kann heute nicht kommen, ich bin schwer verkühlt. Nehmen Sie Aspirin C, trinken Sie warmen Tee und bleiben Sie im Bett, sagte Frau Resch.
Das tat Lisa nicht. In ihrem Bett lag ja immer noch Ronnie.
Steh gefälligst auf, sagte sie und zog ihm die Decke weg, ich will lüften.
Was dir nicht einfällt! Lüften! In aller Herrgottsfrühe! – Er schlüpfte in seine Jeans. Und was hast du danach vor?
Weiß noch nicht, sagte Lisa.
Was hältst du von einem gemeinsamen Frühstück?
Mit nacktem, sehr weißem Oberkörper stand er am Fenster. Hielt sich erstaunlicherweise für sehenswert. Erst gehen wir frühstücken und danach machen wir einen kleinen Spaziergang.
Aber ich hab mich doch eben erst krank gemeldet.
Ich bitte dich. Deswegen wirst du dir doch keinen Hausarrest antun!
Und er hatte ja recht. Frau Resch, die, gerade weil ihr heute keine Aushilfe zur Verfügung stand, kaum aus dem Café wegkonnte, würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht treffen. Und ihre Stammgäste, meist alte Leute, kamen wahrscheinlich selten aus ihrem Bezirk heraus.
Roch allerdings … Roch würde Frau Resch sicher fragen, wo Lisa bleibe. Wahrscheinlich würde die Chefin ihm unwillig antworten. Aber soviel würde er mitbekommen, dass sie heute nicht mehr im Café auftauchen würde. Und dann? Ja eben. Was würde Roch mit diesem Tag anfangen?
Das kam ihr in den Sinn, als sie im Espresso auf dem Servitenplatz saßen. Und ging ihr noch immer durch den Kopf, als sie bei der U-Bahn-Station Friedensbrücke die Stufen zur Donaukanallände hinuntergestiegen waren. Die Summerstage war so gut wie eingewintert, die Sessel und Tische, die während der wärmeren Jahreszeit am Ufer standen, waren in irgendwelchen Depots verschwunden. Aber es schien nach wie vor ein bisschen Sonne und die Wasseroberfläche glitzerte.
Und dann erschrak sie, als ihnen unter einer der nächsten Brücken ein Mann entgegenkam, der sie aus der Entfernung an Roch erinnerte. Vielleicht lag das ja nur daran, dass er ein wenig hinkte, denn als er näherkam, sah er ganz anders aus als Roch. Im ersten Moment aber war sie fast überzeugt gewesen, dass er es war. Und hätte, in der Hoffnung, dass er sie mit seinen schlechten Augen noch nicht erkannt hatte, am liebsten rasch umgedreht.
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