Das geht Sie nichts an, sagte sie, stand auf und zog sich hinter die Theke zurück.
Sie schreiben doch manchmal Gedichte, habe ich recht?
Rasch klickte sie den Text, an dem sie gerade geschrieben hatte, weg.
Gedichte? Wie kommen Sie denn auf diese Idee?
Gehör, sagte er. Ich höre die Länge und Kürze der Zeilen.
Nun war Lisas Laptop zwar wirklich nicht mehr der jüngste. (In ihrer gegenwärtigen Situation konnte sie sich keinen neuen leisten.) Und die Tastatur war schon ein bisschen klapprig. Aber Herr Roch hatte erstaunlich feine Ohren.
Sein Gehör hatte durch den Schlaganfall offenbar nicht gelitten.
Gedichte also, sagte er, geben Sie’s zu.
Wenn er lächelte, hing sein rechter Mundwinkel ein bisschen schief.
Ach was! sagte sie. Ich mache halt viele Absätze.
Ist mir doch ganz egal, ob das, was ich da ab und zu tippe, Prosa ist oder Lyrik. Prosaische Lyrik oder lyrische Prosa, was weiß ich. Stimmt, ich habe etwas davon bei diesem Poetry-Slam vorgelesen. Aber das war Ronnies Idee! Ich hätte mir das nicht einreden lassen sollen .
Hi, Mira! Du fragst, wie das gelaufen ist. Was soll ich dir sagen / schreiben? Blöd ist es gelaufen! Kaum waren wir dort, im Hinterzimmer eines mir gleich unsympathischen Lokals, hab ich mich schon fehl am Platz gefühlt. Mein erster Impuls war, wieder umzudrehen, aber Ronnie hat mich zurückgehalten .
Dabei kann ich gar nicht sagen, warum ich mich unter den anderen, die dort hinkamen, so wenig wohlfühlte. Bis auf wenige Ausnahmen, lauter Leute in unserem Alter. Ein paar davon hatte ich, glaube ich, schon an der Uni gesehen. Vielleicht lag es ja auch an mir, an meiner eigenen Unsicherheit, aber so war das eben .
Dort aufzutreten war schlicht und einfach nicht meins. Einmoderiert von diesem Blödmann, der sich aufführte wie ein DJ. Den meisten Applaus hatten die, die rappten oder sonst irgendeine Show abzogen. Ich las meinen Text vom Blatt. Nur Ronnie applaudierte .
Deine Performance, sagte er, war halt nicht gerade mitreißend. Wie er das Wort Performance sagte, dafür könnt ich ihn schon ohrfeigen. Übrigens ist er jetzt mit Tina zusammen. Die studiert nicht nur Germanistik, sondern auch Anglistik und Komparatistik, ist aber trotzdem eine blöde Kuh .
Erzählen Sie etwas von sich, sagte der Herr Roch – aber was sollte sie ihm denn groß erzählen? Dass sie Ende Mai die Matura gemacht hatte, trotz allem, was sie von der Vorbereitung auf diese sogenannte Reifeprüfung ( Reife / Wofür denn? ) abgehalten, was ihre Konzentration darauf erschwert hatte? Und dass sie gleich anschließend ihren Koffer gepackt hatte, nicht um mit ihrer Klasse auf Maturareise zu fahren, sondern um von zu Hause auszuziehen ( zu Hause / Wo war das )? Aus dem Haus, in dem sie eine überbehütete und viel zu lange Kindheit verbracht hatte, und dann zwei oder drei Jahre des Zweifels?
Aus der Kindheit war sie herausgefallen wie aus einem allzu schönen Traum. Einem Traum, aus dem ihre Eltern ihren um zwei Jahre jüngeren Bruder Jakob und sie nicht aufwachen lassen wollten. Dieser Traum spielte in einem großen, alten, aber selbstverständlich den Bedürfnissen einer wohlhabenden Familie von heute angepassten Haus mit adrett eingerichteten Zimmern, einem weitläufigen Garten mit prächtigen, alten Bäumen, Biotop und Pool und einer hohen Mauer rundherum. Und manche Sequenzen dieses Traums spielten in noch absurder von der Außenwelt abgeschirmten Ferienressorts.
Sollte sie das erzählen? Nein, das war peinlich. Für sich hatte sie es notiert, in ihr Tagebuch (Nachtbuch). Sobald sie erwachsen genug dazu gewesen war. Um sich klarzumachen, was sie gehasst hatte (vorerst noch uneingestanden, aber nachhaltig):
Diese sowohl in den Ferien als auch daheim, wo es ja doch am schönsten sein sollte, aufgenommenen Videos, die wir immer wieder ansehen mussten .
Diese demonstrative Innigkeit zwischen Papa und Mama .
Dieses Glück, das vor allem uns Kids zum Strahlen brachte .
Mimik, Gestik, alles war auf die Darstellung unseres komfortablen Glücks programmiert .
Auch wenn es uns manchmal schon ein bisschen langweilte .
Strahlend gückliche Kinder glücklicher Eltern .
In Papas Videoclips spielten wir unsere Rollen perfekt .
Den Verdacht, dass das alles nicht stimmte, hatte ich allerdings schon länger gehabt. Den Verdacht, dass die Wirklichkeit nicht so kitschig schön wäre. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich vor dem Spiegel stand und zum ersten Mal die Pickel auf meiner Stirn wahrnahm. Ich drückte sie aus und es blutete und das war hässlich. Aber das war die Wahrheit und sie zu sehen hatte etwas Befreiendes. Und ich verspürte Lust, das zu demonstrieren. So schlug ich die Tür meines Teenagerzimmers, das im ersten Stock lag, hinter mir zu, schritt die Treppe hinunter in unseren sogenannten Salon, wo schon alle bei Tisch saßen und auf mich warteten (Vater, Mutter, Bruder, Hund und Katz, die natürlich auch glücklich zusammenlebten), und zeigte mich. Aber Mama sprang sofort auf und kam mit Wattepads aus dem Bad zurück, Papa schüttelte nur den Kopf und Jakob (Bruder Jakob / Bruder Jakob / schläfst du noch?) zuckte die Achseln, und dann aßen wir Lachs und den Kaviar, den ein dankbarer Patient meines Vaters aus St. Petersburg geschickt hatte .
Sollte sie das erzählen? Nein, dazu hatte sie keine Lust. Und schon gar nicht wollte sie erzählen, wie dieser Film dann gerissen war. Kurz bevor sie nach La Réunion fliegen sollten – einmal was anderes, auf den Kanaren hatten sie ja schon alle Inseln durch. Aber das Flugzeug flog dann eben ohne sie, denn in der Nacht davor war Papas Verhältnis mit seiner Ordinationshilfe aufgeflogen und von diesem Morgen an war alles ganz anders.
Zuerst der monatelange Streit meiner Eltern und dann die Stille, als sie endlich ausgestritten hatten. Unterbrochen von den Telefonaten, die meine Mutter mit ihrer Anwältin führte. Zwischendurch heulte sie auch, die liebe Mama. Aber wenn sie mit der Anwältin die Konditionen der Scheidung besprach, streute sie zwischendurch immer wieder Gehässigkeiten gegen Papa ein, und da verging mir das Mitleid gründlich. So viel war schon wahr, dass sich mein Vater, der seine um zwanzig Jahre jüngere Ordinationshilfe nicht nur vögelte, sondern auch die Absicht hatte, ein neues Leben mit ihr zu beginnen, damit als echtes Arschloch erwies. Jedenfalls ihr, unserer armen Mama, gegenüber. Aber dass sie ihn, wie sie der Anwältin wiederholt und mit am Telefon fast überschnappender Stimme sagte, nun zugrunde richten wollte – sie werde es ihm heimzahlen, er sollte zahlen, zahlen und noch einmal zahlen … das konnte ich nicht mehr hören. Mein Bruder zog sich in sein Zimmer zurück, verschanzte sich hinter dem Bildschirm und schoss auf alles, was sich bewegte. Mich aber trieb es aus dem Haus .
Dann ließ ich mich treiben. Weg aus dem blöden Villenviertel und der Schrebergartenöde. Durch den kleinen Wald und über die große Wiese. Und weiter und weiter, vorbei am Soldatenfriedhof und am Kreuzweg. Und dann, das ergab sich, hatte ich es nicht mehr weit zum Haus des Großvaters .
Um Missverständisse zu vermeiden: Es war nicht so, dass ich eine besondere Beziehung zu ihm hatte. Solange er gesund gewesen war, waren Besuche bei ihm eher eine Pflichtübung. Das galt auch für meine Eltern und meinen Bruder. Längere Besuche beim Opa gab es nur zu Weihnachten und zu seinem Geburtstag .
Sonst kamen wir eher nur auf einen Sprung. Er war ein alter Mann, der sich bemühte, zu uns Kindern freundlich zu sein, aber man merkte ihm die Mühe an. Er fragte, wie es uns in der Schule gehe, er schenkte uns große Tafeln Schokolade, von denen er immer einen Vorrat im Haus hatte, weil er selbst gern naschte. Er streichelte uns, solange wir klein waren, über den Kopf, was wir nicht wirklich gernhatten, aber wir ließen ihm die Freude, für den Fall, dass es ihm wirklich eine Freude war .
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