Doch egal wie, da musste sie durch.
Mehr als die dritte Klasse war nun mal nicht drin. Kein Wunder, wenn man die paar Groschen, die ihr Vater am Ersten rüberwachsen ließ, mit einem Verehrer im Lunapark verjubelte.
Willkommen im Abteil für Arme, ein Güterwaggon war nichts dagegen. In der zweiten Klasse, das zum Thema knapp bemessenes Taschengeld, wäre sie wesentlich besser dran gewesen. Und außerdem, in Gesellschaft reiste es sich viel besser. Ein bisschen Tratsch konnte bekanntlich nicht schaden, redselige Mitfahrerinnen vorausgesetzt. Wozu auch Zeitung lesen, das brachte doch sowieso nichts. Propaganda, dass sich die Balken bogen, Siegesmeldungen aus wer weiß welchem russischen Kaff, Ordensverleihungen am Fließband, die ewigen Appelle, den Gürtel enger zu schnallen, mehr war nicht. Was die Leute wirklich interessierte, danach fragte doch kein Mensch.
Immer noch keine Mitfahrer, einfach zum Gähnen. Und von wegen spazieren gucken, das konnte sie sich abschminken. Die Verdunkelungsrahmen waren nun mal Pflicht, wenngleich so überflüssig wie ein Kropf. Ein handtellergroßes Loch, um während der Fahrt aus dem zugeklebten Fenster zu kieken, welch ein Komfort. Ein Gefühl wie im Aquarium, für Zierfische wärmstens zu empfehlen.
Und was die Engländer betraf, vor denen brauchte man keine Angst zu haben. Die standen mit dem Rücken zur Wand, und anstatt sich Gedanken über Luftangriffe zu machen, hatten die Berliner andere Sorgen. Bei der Versorgung haperte es am meisten, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen. Und beim Angebot in den Kaufhäusern ja wohl auch. Von der Hitze, derentwegen sich ihre Bluse wie ein klitschnasses Handtuch anfühlte, nicht zu reden.
Da lobte sie sich doch die U-Bahn, dort war es wenigstens nicht so heiß. Und weniger gefährlich ja wohl auch. Es sei denn, man hatte das Pech, einem Sittenstrolch zu begegnen. Ihre Mutter konnte ein Lied davon singen, war sie doch gleich mehrfach rüde begrapscht worden, zuletzt vor ein, zwei Monaten, auf dem Weg zu ihrer Tante in Friedrichshain. Mittlerweile hatten sich die Zeiten jedoch geändert, und wer sich oder seine Pfoten nicht in den Griff bekam, mit dem wurde kurzer Prozess gemacht. Im Vorbeigehen mal eben ein bisschen rumfingern, weil sich der Pavian im Mann zu Wort meldete, die Zeiten waren ein für alle Mal vorbei. Auf Sittlichkeitsdelikten stand KZ, und wie man hörte, herrschten dort ziemlich raue Sitten.
Quer durch Berlin mit der S-Bahn, bei der Hitze nun wahrlich kein Vergnügen. Kein Wunder also, dass ihr vor Müdigkeit fast die Augen zufielen, zwar nur für ein paar lächerliche Sekunden, aber lange genug, um nicht auf der Hut zu sein. Im Nachhinein kamen sie ihr jedoch wie Stunden vor, von Mal zu Mal zahlreicher, je öfter sie sich den Horror ins Gedächtnis rief.
Horror.
Eine fast schon verharmlosende Bezeichnung für das, was sie in den folgenden Minuten durchlitt. Auch jetzt, eine gefühlte Ewigkeit später, hing ein unsichtbarer Schleier vor ihrem Gesicht. So verzweifelt sie auch dagegen ankämpfte, sie erkannte sich selbst nicht wieder. Es schien, als stecke sie in einem fremden Körper, zusammengekauert wie in einem Käfig, aus dem es kein Entkommen gab. Hätte sie in den Spiegel geschaut, sie wäre zu Tode erschrocken, so rasant hatte sie sich verändert. Um 10 Jahre gealtert, und das in 100 Sekunden, wie aus dem Nichts in die Welt der Erwachsenen katapultiert. Zeitlebens würde sie den Schock, der sie durchfuhr, nicht verdauen. Die Blessuren am ganzen Körper, der lähmende Schmerz, intensiv wie ein Stromstoß von mehreren Hundert Volt, die Scham, überall am Körper berührt zu werden, der Ekel, als ihr der Widerling zwischen die Schenkel griff, die Wut, die Ohnmacht, die Hilflosigkeit, der Wunsch, der Unbekannte werde dafür büßen: Die Hölle war kein imaginärer Ort mehr für sie, sie existierte wirklich.
Und der leibhaftige Satan auch.
Dabei ging alles auf ihre Kappe, die Polizei traf keine Schuld. Hätte sie sich nicht heimlich mit ihrem Freund getroffen, sie wäre spätestens um sechs zu Hause gewesen. Um die Zeit war es ja noch hell, und überhaupt, was konnte ihr denn schon passieren. Dachte sie zumindest. Polizei an allen Ecken und Enden, sowohl uniformiert als auch in Zivil, Kontrolleure der BVG und zu guter Letzt die selbstherrlichen Beschützer der SA, die sich aufspielten, als ob sie Graf Koks von der Gasanstalt wären.
Alles unter Kontrolle?
Von wegen.
Aber wehe, wenn man jemanden brauchte. Wenn man sich zur Wehr setzte, um seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Wenn es sich so anfühlte, als sei der Tod, an den man sonst keinen Gedanken verschwendete, nur eine Frage von Minuten, wenn nicht von ein paar lächerlichen Sekunden.
Dann erlebte man sein blaues Wunder.
Denn dann war man auf sich allein gestellt, und das mit gerade mal 17 Jahren.
Von aller Welt verlassen, nur sie und das Scheusal, von dem man sich Dinge erzählte, bei denen ihre Fantasie versagte. Allein mit einem Monstrum, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Das nicht zögern würde, sie auf bestialische Weise zu töten. Allein mit ihrer Angst, wie ein Stück Vieh auf die Schlachtbank zu wandern. Und kein Retter in Sicht, der sie vor dem, was nun folgte, bewahren würde.
Mit der S-Bahn fahren, anstatt auf den Bus zu warten.
Alles richtig gemacht, Elsa.
Das hast du nun davon.
»Heil Hitler, junge Dame! Die Fahrkarte, wenn ich bitten darf.« Der Bahnhof Rummelsburg entschwand gerade ihren Blicken, da stand er auf einmal vor ihr, wie aus dem Nichts, die Uniform bis zum Kragen zugeknöpft, dass es ihm fast die Luft abschnürte, die Stimme fordernd, wie es sich für einen Kontrolleur gehörte, die Mütze tief im mit Stoppeln besprenkelten Gesicht. »So allein hier, hübsches Fräulein? Ich will ja nichts sagen, aber ist das nicht ein bisschen leichtsinnig von Ihnen?«
Hübsch, na ja. Darüber konnte man geteilter Meinung sein. Einer ihrer Verehrer hatte mal gesagt, sie sähe wie eine Zigeunerin aus. Natürlich nur im Scherz, denn der Vergleich wäre eine ziemliche Frechheit gewesen. Obwohl, da waren ihre schulterlangen dunklen Haare, weich und glänzend, wie bei den Stars in der Illustrierten. Zu einem Zopf geflochten, um bei der Partei nicht anzuecken. Und was ihren Teint betraf, nun ja, um als Südamerikanerin durchzugehen, musste sie sich nicht groß anstrengen. Da hatte sie so ihre Erfahrungen gemacht, vor allem mit diversen Mitschülern, die das Gerücht ausstreuten, ihre Vorfahren seien von nichtarischer Geburt gewesen. Dummes Geschwätz, über das sie und ihre Eltern nur lachen konnten. An ihrem Ariernachweis gab es nichts zu deuteln, südländisches Aussehen hin oder her.
»Warum so schweigsam, Sie fahren doch nicht etwa schwarz?«
»Tut mir leid, Sie zu enttäuschen«, hielt sie mit aufgesetzter Forschheit dagegen, in der Hoffnung, dem Kontrolleur den Wind aus den Segeln zu nehmen, zog ihre Fahrkarte aus der Brusttasche ihrer BDM-Jacke hervor und hielt sie dem Wichtigtuer vor die Nase. »Ich sehe vielleicht nicht so aus, aber die 20 Pfennig kann ich mir gerade noch leisten.«
»Freut mich für Sie«, presste der Unbekannte hervor und dachte offenbar nicht daran, das Billet für die dritte Klasse in Empfang zu nehmen. Stattdessen starrte er auf ihren dunklen Rock, der im Eifer des Gefechts in die Höhe gerutscht war. Wider Willen brachte sie das Missgeschick zum Erröten, und als könne sie es dadurch wettmachen, zerrte sie den Stoff über das schokoladenfarbene Knie.
»Ich muss schon sagen, die braune Jacke passt wie angegossen.«
Die Knie krampfhaft zusammengepresst, wich sie dem Blick des Unbekannten aus, starrte sie wie in Trance an die gegenüberliegende Wand. Die Röte in ihrem Gesicht vertiefte sich, und je länger sie wie versteinert dasaß, das Gesicht glühend heiß wie eine Herdplatte, desto unverschämter die Blicke, mit denen der Unbekannte sie taxierte. Es war nicht das erste Mal, dass die Männer ihr schmachtende Blicke zuwarfen, und wenn sie ehrlich war, mitunter fühlte sie sich geschmeichelt. Anders als sonst hatte sie sich sogar geschminkt, aber nur dezent, weil es von den Parteioberen nicht gern gesehen wurde. Ihrem Kavalier hatte es jedenfalls gefallen, und das war ja wohl das Wichtigste. Und wenn die Männer sie anglotzten, als hätten sie noch nie eine Frau gesehen – na wenn schon. Solange sie nicht zudringlich wurden, konnte es ihr egal sein.
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