Obwohl ich mir sicher war, dass Polina einem Gespräch mit mir geradezu zielstrebig ausweicht, legte ich mir ein unbeteiligtes und gleichgültiges Gehabe zu: immer in der Hoffnung, sie würde mich, gedulde ich mich nur eine Weile, von sich aus ansprechen. Hingegen schenkte ich gestern und heute meine ganze Aufmerksamkeit Mademoiselle Blanche. Armer General, er ist rettungslos verloren! Sich mit fünfundfünfzig so leidenschaftlich zu verlieben – ein Unglück, zweifellos. Vergessen Sie darüber hinaus nicht seinen Witwerstand, die Kinder, den völlig heruntergekommenen Besitz, die Schulden und schließlich die Frau, in die er sich just verlieben musste. Mademoiselle Blanche ist schön. Ich weiß jedoch nicht, ob man mich verstehen wird, wenn ich sage, dass ihr Gesicht zu jenen Gesichtern gehört, die einem Schrecken einjagen. Ich zumindest hatte immer Angst vor solchen Frauen. Sie ist wahrscheinlich um die fünfundzwanzig, hochgewachsen, mit ausladenden runden Schultern; ihr Hals und ihr Busen formidabel; die Haut gebräunt, das Haar schwarz wie Tusche, ein üppiges Haar, würde für zwei Frisuren reichen. Die Augen sind schwarz, das Augenweiß gelblich, der Blick unverschämt, die Zähne von weißestem Weiß, die Lippen immer geschminkt: sie riecht nach Moschus. Sie kleidet sich reich und auffallend, dennoch mit feinem Geschmack. Ihre Beine und Arme sind einmalig. Sie besitzt eine heisere tiefe Altstimme. Ab und zu bricht sie in Lachen aus und zeigt dabei ihre sämtlichen Zähne, doch ansonsten schaut sie schweigsam und unverschämt drein, zumindest, wenn Polina oder Marja Filippowna dabei sind. (Ein seltsames Gerücht geht um: Marja Filippowna fährt nach Russland.) Mir scheint Mademoiselle Blanche völlig ungebildet zu sein, vielleicht auch dumm, was sie allerdings mit Hinterlist und Schläue wettmacht. Mir scheint, ihr Leben war nicht ohne Abenteuer. Mal ins Reine gesprochen: Es kann durchaus sein, dass der Marquis nicht im Entferntesten mit ihr verwandt und ihre Mutter mitnichten ihre Mutter ist. Hingegen lässt sich bezeugen, dass sie und ihre Mutter in Berlin, wo wir zusammentrafen, einen anständigen Umgang pflegten. Was nun den Marquis selbst anlangt, so mag ich zwar bis jetzt an seinem Titel zweifeln, doch steht es, scheint’s, außer Frage, dass er bei uns, beispielsweise in Moskau, und auch in Deutschland da und dort zur guten Gesellschaft gehört. Ich weiß nicht, was er in Frankreich ist; er soll ein Château besitzen. Ich hatte erwartet, dass in den zwei Wochen allerlei passieren würde, war mir jedoch noch immer nicht sicher, ob zwischen Mademoiselle Blanche und dem General etwas Entscheidendes zur Sprache gekommen war. Es hängt überhaupt alles von unserer Vermögenslage ab, anders gesagt, davon, ob der General ihnen viel Geld vorzuweisen hat. Sollte sich beispielsweise herausstellen, dass Großmutter nicht gestorben ist – kein Zweifel, Mademoiselle Blanche wäre im Nu verschwunden. Wie wunderlich und komisch für mich selbst, solch ein Klatschmaul geworden zu sein! Oh, wie ist mir das alles zuwider! Mit welchem Hochgenuss ich sie allesamt liegen und stehen lassen würde! Pah, als ob ich Polina verlassen könnte, als ob ich aufhören könnte herumzuspionieren, wenn’s um sie geht. Natürlich ist das Herumschnüffeln gemein, doch was schert mich das!
Neugierig machte mich gestern und heute auch Mister Astley. Ja, er ist in Polina verliebt, da bin ich mir sicher! Seltsam ist es und komisch, wieviel der Blick eines schüchternen und krankhaft keuschen Mannes mitunter auszudrücken vermag, sobald er von der Liebe angerührt ist und natürlich eher schleunigst im Erdboden versinken möchte, denn etwas mit Worten oder Blicken zu sagen oder auszudrücken. Mister Astley begegnet uns recht oft im Park. Er lüftet den Hut und lässt uns vorbei und vergeht in Wahrheit vor Verlangen, sich uns anzuschließen. Fordert man ihn jedoch dazu auf, beeilt er sich abzulehnen. An den Orten, wo die Unsrigen promenieren, im Vergnügungspark, bei Kurkonzerten oder einer Bank vor dem Springbrunnen, bleibt er unbedingt in der Nähe stehen, und wo immer wir auch sein mögen, egal, ob im Park, im Wald oder auf dem Schlangenberg, es genügt, den Kopf zu heben und rundum zu blicken – mit Sicherheit wird man irgendwo auf dem nächsten Pfad oder hinter einem Strauch einen Zipfel von Mister Astley erspähen. Ich glaube, er sucht eine Gelegenheit, mit mir allein zu sprechen. Heute morgen trafen wir zusammen und wechselten ein paar Worte. Er spricht mitunter in irgendwie ungewöhnlich abgehackten Sätzen. Kaum hatte er gegrüßt, begann er:
»Ah, Mademoiselle Blanche! … Mir sind viele Frauen begegnet wie Mademoiselle Blanche!«
Er verstummte und sah mich bedeutsam an. Was er damit sagen wollte, weiß ich nicht, denn auf meine Frage, was das heißen solle, nickte er schlau grinsend und fügte hinzu: »So ist es. Ja. Mag Mademoiselle Pauline Blumen?«
»Ich weiß nicht, kann’s Ihnen gar nicht sagen«, erwiderte ich.
»Wie das? Sie wissen es nicht!« Seine Stimme überschlug sich in höchstem Erstaunen.
»Weiß nicht, hab’s nicht bemerkt«, wiederholte ich lachend.
»Hm, das gibt mir einen besonderen Gedanken.« Er nickte und setzte seinen Weg fort. Im Übrigen sichtlich zufrieden. Wir hatten in elendigstem Französisch parliert.
Der Tag heute war lächerlich, scheußlich, töricht. Jetzt haben wir elf Uhr nachts. Ich sitze in meiner Kammer und rufe mir alles in Erinnerung. Es begann damit, dass ich am Vormittag letztendlich doch gezwungen war, für Polina Alexandrowna zum Roulette zu gehen. Ich musste ihre gesamten hundertsechzig Friedrichsdor übernehmen, stellte allerdings zwei Bedingungen. Erstens: Ich würde nicht auf Hälfte spielen, das heißt – wenn ich gewinne, nehme ich mir nichts, und zweitens: Am Abend will ich von ihr erklärt bekommen, warum sie so dringend gewinnen muss und um wieviel es eigentlich geht. Ich kann noch immer nicht recht glauben, dass es schlicht das Geld ist. Das Geld wird offensichtlich und zwar schnellstens für einen bestimmten Zweck gebraucht. Sie versprach mir eine Erklärung, und ich zog ab. Die Spielsäle waren gedrängt voll. Wie unverschämt die Leute dreinblicken, wie gierig sie sind! Ich zwängte mich durch die Menge und postierte mich direkt neben dem Croupier; danach startete ich zaghafte Versuche, setzte mal zwei, mal drei Münzen. Inzwischen beobachtete ich das Geschehen und prägte mir einiges ein; ich gewann den Eindruck, dass das Tüfteln und Rechnen eigentlich recht wenig bringt, schon gar nicht soviel, wie manche Spieler meinen. Die haben mit Listen bekritzeltes Papier vor sich, merken sich die Gewinnzahlen, kalkulieren, errechnen ihre Chancen, setzen schließlich – und verlieren geradeso wie wir einfachen Sterblichen, die wir aufs Geratewohl spielen. Dafür aber habe ich einen Schluss gezogen, der zu stimmen scheint: In einer Serie von zufälligen Chancen gibt es tatsächlich, nein, kein System, aber doch so etwas wie eine Ordnung, was natürlich sehr merkwürdig ist. Beispielsweise kommt es vor, dass nach dem mittleren Dutzend das letzte kommt; zwei Mal, sagen wir, trifft der Schlag auf diese zwölf letzten Zahlen und wechselt danach auf das erste Dutzend. Nach dem ersten kommt das mittlere, drei, vier Mal, alsdann wieder das letzte, um nach zwei Treffern wieder zum ersten Dutzend zu wechseln, dort folgt ein Treffer, danach wieder drei auf die mittleren Zahlen, und so geht es in einem fort, anderthalb bis zwei Stunden lang. Eins, drei und zwei, eins, drei und zwei. Es ist spaßig. An manchen Tagen beziehungsweise manchen Vormittagen läuft es so, dass Schwarz und Rot einander immerzu abwechseln, fast ohne erkennbare Ordnung, zwei-, dreimal hintereinander, nicht öfter, kommt dieselbe Farbe. An einem anderen Tag oder anderen Abend kommt hintereinander Rot, bis zu zweiundzwanzig Mal hintereinander, und das wiederholt sich beharrlich eine gute Weile, auch mal einen ganzen Tag lang. Vieles hat mir diesbezüglich Mister Astley erklärt, der den ganzen Vormittag an den Spieltischen verbrachte, ohne auch nur einmal ein Spiel zu machen. Was hingegen mich anlangt, so habe ich alles verspielt, ratzekahl und in Windeseile. Ich setzte stracks zwanzig Friedrichsdor auf Pair und gewann, setzte fünf und gewann wieder, und so fort, zwei- oder dreimal. Ich muss in fünf Minuten wohl an die vierhundert Friedrichsdor beisammengehabt haben. Da hätte ich nun fortgehen sollen, aber nein, eine seltsame Empfindung ergriff mich, ein Verlangen, das Schicksal herauszufordern, ihm ein Schnippchen zu schlagen, ihm eine Nase zu drehen. Ich setzte den höchsterlaubten Einsatz, viertausend Gulden, und verlor. Danach packte mich der Eifer, ich holte alles, was mir geblieben war, hervor, setzte wie vordem und verlor abermals, worauf ich wie betäubt den Tisch verließ. Ich begriff nicht mal, was mir da widerfahren war, und berichtete Polina Alexandrowna erst vor dem Mittagessen über das Geschehene. Bis dahin strolchte ich ziellos durch den Park.
Читать дальше