Fjodor Dostojewski - Der Jüngling

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"Der Jüngling" zählt zu den fünf großen Romanen des meisterhaften Erzählers Dowtojewski. Er gilt für seine Zeit als ein kühnes literarisches Experiment. Mit psychologischer Finesse wird die Selbstfindungsphase eines jungen Mannes beschrieben, der nach St. Petersburg geht, um dort sein Glück zu finden, Freiheit und Unabhängigkeit, wobei der zuspitzende der Vater-Sohn-Konflikt im Mittelpunkt steht.

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Der Jüngling

Der Jüngling

© 1868 Fjodor M. Dostojewski

Aus dem Russischen von Hermann Röhl

erstmals veröffentlicht 1915

Umschlagbild: Fjodor M. Dostojewski

© Lunata Berlin 2019

Inhalt

Erster Teil Erster Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Zweiter Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Dritter Teil

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Über den Autor

Erster Teil

Erstes Kapitel

Ich habe dem Drange nicht widerstehen können, mich hinzusetzen und diese Geschichte meiner ersten Schritte auf der Lebensbahn aufzuzeichnen, obwohl es eigentlich nicht nötig wäre. Aber eines weiß ich ganz genau: um meine ganze Lebensgeschichte zu schreiben, werde ich mich niemals mehr hinsetzen, und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte. Man muß doch gar zu sehr in sich selbst verliebt sein, um von sich selbst zu schreiben, ohne sich zu schämen. Ich entschuldige mich nur damit, daß ich nicht in der Absicht schreibe, in der es alle anderen tun, nämlich um vom Leser gelobt zu werden. Wenn ich mich plötzlich dazu entschlossen habe, alles, was mir im letzten Jahr begegnet ist, eingehend niederzuschreiben, so habe ich es infolge eines inneren Bedürfnisses getan: einen so starken Eindruck hat alles Geschehene auf mich gemacht. Ich werde nur die Ereignisse verzeichnen und alles fremde Beiwerk, namentlich schriftstellerische Finessen, möglichst vermeiden; so ein Schriftsteller schreibt dreißig Jahre lang und weiß zuletzt gar nicht, wozu er eigentlich so lange geschrieben hat. Ich aber bin kein Schriftsteller und will kein Schriftsteller sein, und ich würde es für eine Unschicklichkeit und für eine Gemeinheit halten, wenn ich das Innerste meiner Seele und meine besten Empfindungen auf den Büchermarkt schleppte. Zu meinem Verdruß ahnt mir aber, daß es doch wohl nicht ganz ohne Schilderung von Empfindungen und ohne Reflexionen (vielleicht sogar von trivialer Art) abgehen wird: so sittenverderbend wirkt auf den Menschen eine jede literarische Tätigkeit, auch wenn er sie nur für sich ausübt. Die Reflexionen aber werden vielleicht sogar einen sehr trivialen Eindruck machen, weil das, was man selbst für wertvoll hält, in den Augen eines Fremden leicht wertlos erscheint. Aber lassen wir das alles abgetan sein! Nun habe ich doch eine Vorrede geschrieben; weiter soll aber nichts mehr in diesem Genre vorkommen. Zur Sache also, obgleich nichts schwieriger ist, als zur Sache zu kommen – vielleicht auf allen Gebieten.

Ich fange an, das heißt, ich möchte meine Aufzeichnungen mit dem 19. September vorigen Jahres beginnen, also genau an dem Tag meiner ersten Begegnung mit ...

Aber wenn ich so gerade damit herauskäme, wem ich begegnete, ehe noch jemand irgend etwas weiß, so würde das abgeschmackt sein; ich glaube sogar, daß dieser ganze Ton abgeschmackt ist: obwohl ich mir fest vorgenommen, habe, nicht nach literarischen Finessen zu trachten, bin ich doch von der ersten Zeile an in dieses Fahrwasser hineingeraten. Außerdem ist, wie es scheint, zum vernünftig Schreiben der bloße Wunsch, es zu tun, noch nicht ausreichend. Ich bemerke ferner, daß es sich wohl in keiner europäischen Sprache so schwer schreibt wie im Russischen. Ich habe das, was ich hier soeben niedergeschrieben habe, jetzt noch einmal durchgelesen und finde, daß ich weit klüger bin, als ich in dem Geschriebenen erscheine. Woher kommt es, daß bei einem klugen Menschen das, was er sagt, weit dümmer ist als das, was unausgesprochen in ihm zurückbleibt? Ich habe das während dieses ganzen verhängnisvollen letzten Jahres an mir auch beim mündlichen Umgang mit anderen zu wiederholten Malen bemerkt und mich sehr darüber geärgert.

Obgleich ich mit dem 19. September beginnen will, möchte ich doch erst ein paar Worte darüber hersetzen, wer ich bin, wo ich vorher gelebt hatte und wie es somit an jenem Vormittag des 19. September in meinem Kopf teilweise aussah, damit die nachfolgenden Ereignisse dem Leser und vielleicht auch mir selbst verständlicher sind.

Ich habe das Gymnasium absolviert und stehe jetzt schon im einundzwanzigsten Lebensjahr. Mein Familienname ist Dolgorukij, und mein legitimer Vater ist Makar Iwanow Dolgorukij, ein ehemaliger Leibeigener der Herrschaft Wersilow. Auf diese Weise bin ich in legitimer Ehe geboren, obwohl ich ein entschieden illegitimer Sohn bin und meine Herkunft nicht dem geringsten Zweifel unterliegt. Das ging folgendermaßen zu:

Vor zweiundzwanzig Jahren besuchte der Gutsbesitzer Wersilow (das nämlich ist mein Vater), der damals fünfundzwanzig Jahre alt war, sein Gut im Gouvernement Tula. Ich vermute, daß er zu jener Zeit noch sehr charakterlos war. Es ist merkwürdig, daß dieser Mann, der seit meiner frühesten Kindheit einen solchen Eindruck auf mich gemacht und einen so gewaltigen Einfluß auf meine ganze seelische Entwicklung ausgeübt hat und vielleicht durch seine Persönlichkeit noch auf lange Zeit hinaus für meine Zukunft bestimmend gewesen ist, daß dieser Mann auch jetzt noch in sehr vieler Hinsicht für mich ein vollständiges Rätsel geblieben ist. Aber davon später. Das läßt sich nicht so von vornherein erzählen. Von diesem Mann werde ich ohnehin in meinem Heft fortwährend zu reden haben.

Er war damals, das heißt im Alter von fünfundzwanzig Jahren, gerade Witwer geworden. Er war mit einer Frau verheiratet gewesen, die zwar den höchsten Gesellschaftskreisen angehörte, aber nicht sehr reich war, einer geborenen Fanariotowa, und hatte von ihr einen Sohn und eine Tochter. Meine Nachrichten über diese so früh von ihm gegangene Gattin sind nur sehr unvollständig und in meinem Material nicht so ohne weiteres zu finden, und auch vieles von Wersilows privaten Lebensverhältnissen ist mir unbekannt geblieben, so stolz, hochmütig, verschlossen und geringschätzig benahm er sich fast immer gegen mich, obgleich er mich zuzeiten durch sein sozusagen demütiges Wesen mir gegenüber in Erstaunen versetzte. Ich erwähne jedoch zur Charakterisierung im voraus, daß er im Laufe seines Lebens drei Vermögen durchgebracht hat und sogar sehr beträchtliche, im ganzen über vierhunderttausend Rubel und vielleicht noch mehr. Jetzt besitzt er natürlich nicht eine Kopeke...

Er kam damals, Gott weiß warum, auf sein Gut, wenigstens drückte er sich mir gegenüber in der Folgezeit so aus. Seine kleinen Kinder hatte er, wie das so seine Gewohnheit war, nicht bei sich, sondern zu Verwandten gebracht; so behandelte er seine Kinder sein ganzes Leben lang, sowohl die legitimen als auch die illegitimen. Das Gesinde auf diesem Gut war sehr zahlreich; darunter befand sich auch der Gärtner Makar Iwanow Dolgorukij. Ich möchte hier einfügen, um es ein für allemal abzutun: selten hat sich wohl jemand über seinen Familiennamen so geärgert, wie ich es mein ganzes Leben lang getan habe. Das war natürlich dumm von mir, aber ich tat es doch. Jedesmal, wenn ich in eine Schule eintrat oder mit Leuten zusammenkam, denen zu antworten, ich nach meinem Lebensalter verpflichtet war, wiederholte sich dasselbe: jeder Lehrer, jeder Erzieher, jeder Inspektor, jeder Pope, jeder, den man sich nur denken kann, hielt es, nachdem er nach meinem Familiennamen gefragt und gehört hatte, daß ich Dolgorukij heiße, für nötig hinzuzufügen:

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