Da geschah es, dass einer der Tänzer, der einfach »Vicomte« genannt wurde und dessen weit ausgeschnittene Weste wie angegossen saß, Madame Bovary zum zweiten Mal aufforderte, wobei er versicherte, er wolle sie führen und es werde vortrefflich gehen.
Sie begannen langsam, dann tanzten sie schneller. Sie wirbelten dahin: alles um sie drehte sich, die Lampen, die Möbel, die Wandtäfelung, wie eine Drehscheibe auf einem Zapfen. Wenn sie an den Türen vorbeitanzten, legte ihre Schleppe sich um seine Hose; beider Beine gerieten ineinander; er senkte die Augen zu ihr hin, sie hob die ihren zu ihm empor; ihr schwindelte, sie hielt inne. Sie begannen von neuem, und mit einer schnelleren Bewegung riss der Vicomte sie mit sich fort und verschwand mit ihr bis ans Ende der Galerie, wo sie heftig atmend fast hingefallen wäre und für einen Augenblick den Kopf an seine Brust lehnte. Und dann führte er sie, noch immer tanzend, aber langsamer, auf ihren Platz zurück; sie lehnte sich gegen die Wand und legte die Hand vor die Augen.
Als sie sie wieder aufschlug, sah sie in der Mitte des Salons eine Dame auf einem Hocker sitzen, vor ihr knieten drei Walzertänzer. Sie wählte den Vicomte, und die Geige begann von neuem.
Man sah ihnen zu. Wieder und wieder tanzten sie vorüber, sie mit reglosem Körper, das Kinn gesenkt, und er immer in derselben Haltung, die Brust herausgedrückt, die Ellbogen gerundet, die Lippen vorgestreckt. Die konnte Walzer tanzen! Sie fanden kein Ende und tanzten alle anderen müde.
Dann wurde noch ein paar Minuten geplaudert, und als »Gute Nacht« oder vielmehr »Guten Morgen« gesagt worden war, gingen die Schlossgäste schlafen.
Charles schleppte sich am Treppengeländer hinauf; er hatte sich »die Beine in den Leib gestanden«. Fünf Stunden hintereinander hatte er an den Spieltischen ausgehalten und dem Whist zugeschaut, ohne das geringste davon zu verstehen. Daher stieß er einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, als er sich die Stiefel ausgezogen hatte.
Emma legte sich einen Schal um die Schultern, öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus.
Die Nacht war schwarz. Vereinzelte Regentropfen fielen. Sie atmete den feuchten Wind ein, der ihr die Lider kühlte. Die Ballmusik hallte noch in ihren Ohren nach; sie hielt sich gewaltsam munter, um die Illusion dieses Lebens im Luxus, die sie nur zu bald würde aufgeben müssen, länger andauern zu lassen.
Der Morgen graute. Lange betrachtete sie die Fenster des Schlosses und überlegte, welches wohl die Zimmer derjenigen seien, die ihr am Vorabend aufgefallen waren. Wie gern hätte sie etwas von deren Leben gewusst, wie gern wäre sie hineingedrungen und damit verschmolzen.
Doch es fröstelte sie. Sie zog sich aus und schmiegte sich in die Kissen an den schlafenden Charles.
Zum Frühstück erschienen viele Leute. Es dauerte zehn Minuten; zur Verwunderung des Arztes wurden keine Liköre gereicht. Dann sammelte Mademoiselle d’Andervilliers die Brioche-Reste in einem Körbchen, um sie den Schwänen auf dem Teich zu bringen, und man unternahm einen Gang durch das Treibhaus, wo bizarre, stachelig behaarte Pflanzen in Pyramiden übereinandergestaffelt waren, unter hängenden Gefäßen, die, zu vollen Schlangennestern ähnlich, über ihre Ränder lange, ineinander verschlungene grüne Stränge herabhängen ließen. Die Orangerie, die sich am Ende befand, führte, ohne dass man ins Freie musste, zu den Wirtschaftsgebäuden des Schlosses. Um der jungen Frau eine Freude zu machen, führte der Marquis sie in die Ställe. Über den korbartigen Raufen waren Porzellanschilder angebracht, auf denen in schwarzer Schrift die Namen der Pferde standen. Jedes Tier rührte sich in seiner Box, wenn man an ihm vorbeiging und mit der Zunge schnalzte. Die Dielen in der Geschirrkammer glänzten wie Salonparkett. Die Wagengeschirre waren in der Mitte auf zwei drehbaren Pfeilern aufgehängt, und die Kandaren, die Peitschen, Steigbügel und Kinnketten hingen wohlgeordnet längs der Mauer.
Währenddessen bat Charles einen Bedienten, seinen Einspänner fertigzumachen. Er wurde vor die Freitreppe gefahren, und nachdem alles Gepäck verstaut worden war, bedankte das Ehepaar Bovary sich bei dem Marquis und der Marquise und fuhr heim nach Tostes.
Emma sah schweigend auf die sich drehenden Räder. Charles saß am äußersten Rand der Kutschbank und kutschierte mit abstehenden Ellbogen, und das Pferdchen lief im Zockeltrab in der Deichselgabel, die viel zu lang für es war. Die schlaffen Zügel klatschten ihm auf die Kruppe und wurden nass vom Geifer, und der hinten aufgeschnallte Koffer polterte in starken, regelmäßigen Stößen gegen den Wagenkasten.
Sie waren auf der Höhe von Tibourville, als plötzlich ein paar Reiter lachend und mit Zigarren im Mund an ihnen vorüberritten. Emma glaubte den Vicomte zu erkennen; sie wandte sich um und sah lediglich in der Ferne die im unregelmäßigen Rhythmus des Trabens oder Galoppierens sich auf und nieder bewegenden Köpfe.
Nach einer Viertelmeile musste gehalten und die gerissene Hemmkette mit einem Strick geflickt werden.
Als Charles einen letzten Blick auf das Geschirr warf, sah er etwas am Boden liegen, zwischen den Beinen seines Pferdes; und er hob eine ganz mit grüner Seide bestickte Zigarrentasche auf, die in der Mitte ein Wappen trug wie eine Karossentür.
»Sogar zwei Zigarren sind drin«, sagte er; »die rauche ich heute abend nach dem Essen.«
»Rauchst du denn?«
»Manchmal, wenn die Gelegenheit sich bietet.«
Er steckte seinen Fund in die Tasche und zog dem Klepper eins mit der Peitsche über.
Als sie daheim ankamen, stand das Abendessen nicht bereit. Madame brauste auf. Nastasie gab eine unverschämte Antwort.
»Machen Sie, dass Sie rauskommen!«, sagte Emma. »Das wäre ja noch schöner; Sie sind entlassen.«
Zum Abendessen gab es Zwiebelsuppe und ein Stück Kalbfleisch mit Sauerampfer. Charles saß Emma gegenüber, rieb sich die Hände und sagte mit glücklichem Gesicht:
»Es freut einen doch, wieder zu Hause zu sein.«
Man hörte Nastasie weinen. Er hatte das arme Mädchen recht gern. Früher, während der leeren Stunden seiner Witwerzeit, hatte sie ihm an so manchem Abend Gesellschaft geleistet. Sie war seine erste Patientin gewesen, seine älteste Bekannte im Dorf.
»Hast du ihr im Ernst gekündigt?«, fragte er schließlich.
»Ja. Warum auch nicht?«, antwortete sie.
Dann wärmten sie sich in der Küche, während ihr Schlafzimmer hergerichtet wurde. Charles fing an zu rauchen. Er rauchte mit vorgestülpten Lippen, spuckte alle Augenblicke aus und lehnte sich bei jedem Zug zurück.
»Dir wird noch übel«, sagte sie verächtlich.
Er legte seine Zigarre weg, lief zur Pumpe und stürzte ein Glas kaltes Wasser hinunter. Emma nahm die Zigarrentasche und warf sie rasch hinten in den Schrank.
Der Tag war lang, der Tag nach dem Fest! Sie ging in ihrem Gärtchen spazieren, immer dieselben Wege auf und ab, blieb vor den Blumenbeeten stehen, vor dem Spalier, vor dem Gipspfarrer und musterte verwundert alle diese alten Dinge, die sie doch so gut kannte. Wie weit schien ihr der Ballabend schon zurückzuliegen! Was war es nur, das eine solche Entfernung zwischen dem vorgestrigen Morgen und dem heutigen Abend schuf? Die Fahrt nach La Vaubyessard hatte in ihr Leben einen Riss gebracht, einen klaffenden Spalt, wie ihn ein Unwetter zuweilen innerhalb einer einzigen Nacht in den Bergen höhlt. Gleichwohl schickte sie sich darein; sie verschloss ihr schönes Ballkleid behutsam in der Kommode, und sogar die Atlasschuhe, deren Sohlen vom Parkettwachs gelb geworden waren. Ihrem Herzen ging es genauso: bei der Berührung mit dem Reichtum war daran etwas haften geblieben, das nie weichen würde.
Das Zurückdenken an jenen Ball wurde für Emma fortan zu einer Beschäftigung. Jedesmal, wenn sie mittwochs erwachte, sagte sie sich: »Ach, vor acht Tagen …, vor vierzehn Tagen …, vor drei Wochen war ich dort!« Und nach und nach verschwammen in ihrer Erinnerung die Gesichter, sie vergaß die Tanzmelodien, sie hatte die Livreen und die Räumlichkeiten nicht mehr so deutlich vor Augen; die Einzelheiten waren in Vergessenheit geraten, aber die Sehnsucht verharrte in ihr.
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