Als Gift, als Gegengift stets unvergleichlich,
An Mitgefühl und Sehnsucht unerreichlich,
Gibt sie vom Pfad im Blute uns Bericht,
Von Medschnuns Liebe singt sie manch Gedicht.
Vertraut mit diesem Sinn ist nur der Tor,
Gleichwie der Zunge Kundsmann nur das Ohr.
In Leid sind unsre Tage hingeflogen,
Und mit den Tagen Plagen mitgezogen!
Und ziehn die Tage, lass sie ziehn in Ruh’,
O du der Reinen Reinster, daure du!
Den Fisch nur sättigt nie die Flut, doch lang
Sind dem, der darbt, die Tage, lang und bang.
Aber mein Wort sei kurz; versteht doch nicht
Der Rohe, was der Vielgeprüfte spricht.
Mesnevi oder Doppelverse des Scheich Mewlānā Dschelāl ed dīn Rūmī. Aus dem Persischen übertragen von Friedrich Rosen. München: Georg Müller, 1913, S. 55–57.
Manchmal gab es durchaus Spannungen zwischen Medrese und Tekke. Yunus Emre, der mystische türkische Dichter des vorausgegangenen Jahrhunderts, hatte die geistige Armut der Ulema karikiert, und bei Rumi findet sich die Zeile: „Ein Intellektueller weiß nicht, was der Betrunkene spürt.“ Und die Mystik hatte ihrerseits unter den osmanischen Ulema ihre Kritiker. Doch während es im osmanischen Islam an Kontroversen nicht mangelte, blieb die gegenseitige Feindseligkeit einstweilen begrenzt. Die arabischen Streitschriften von Ibn Taymiyya aus Damaskus und seinen Schülern hatten noch keinerlei Widerhall in den osmanischen Ländern gefunden. Osmanische Mystik war nicht gleichbedeutend mit Geistfeindlichkeit, und der osmanische akademische Islam versuchte die Berechtigung mystischen Suchens nicht in Abrede zu stellen und lehrte Mystik (tasavvuf) als Unterrichtsfach im Lehrplan der Medresen.
Yunus Emre über die Ulema
Den Sinn des Wahren erkannte niemand durch Exegesen, Ihr Derwische, Männer, zum Leben fand nie man mit heuchelndem Wesen!
Scharia ist nur ein Nachen, das Reale des Ozeans Flut, Die Vielen zum Sprung in das Meer vom Nachen nicht fanden den Mut. Sie kamen nur bis an die Tür und blieben in der Scharia stecken, Sie traten nicht ein. Was innen, das konnten sie nicht entdecken. Wer „Heilige-Schrift“-Exegese betreibt, ist im Wahren Rebell, Er liest den Schriftkommentar, doch der Sinn wird ihm dabei nicht hell. a
aÜbersetzung: Michael Reinhard Heß, Textbasis: https://tr.wikisource.org/wiki/Hakikatin_m%C3%A2n%C3%A2s%C4%B1[Zugriff: 19. September 2017]
Die enorme Bandbreite dieses ganzheitlichen spirituellen und intellektuellen Lebens zeigt sich an jenen Themen, die unter der glatten Oberfläche der berichteten Ereignisse in Aşıkpaşazades Taten und Daten aufscheinen. Das Buch steht in der Tradition zweier älterer Literaturgattungen, der im Titel genannten „Taten“ (menakıb) und „Daten“ (tevarih). 41Beim ersten dieser Vorgängergenres, dem „Buch der Taten“, handelte es sich um das, was mittelalterlich gesta genannt wird, eine Sammlung von Anekdoten über die wundertätige Tugend eines Helden, üblicherweise in Versform. 42Wie die volkstümliche Gattung der Romanze bezogen solche Gesten ihren Inhalt aus Geschichten, die in der mündlichen Überlieferung umliefen. Diese Geschichten waren oft glaubhaft, selbst wenn die Historizität des Helden selbst (es handelte sich stets um Männer) nicht so leicht festzustellen ist. Der Ton der Einzelepisoden reichte von der Hagiographie, wie im Fall Scheich Bedrettins, bis zum Phantastischen. Kämpfe mit Ungläubigen und Dämonen, ein Wettstreit zwischen Derwischen und christlichen Priestern, sie alle waren Schauplätze für Zeichen und Wunder.
Während die Taten und Daten ihr gaza-Motiv, ihren Militarismus und die Freude an der Gewalt, aus der Gestenliteratur bezogen, entnahmen sie ihre Chronologie und viele Episoden aus der anderen Vorläufergattung, der Annalistik. Annalen – so der Begriff des westlichen Mittel alters, der sich aus der Ordnung nach Jahren (anni) ableitet; der türkische Terminus bedeutete wörtlich „Daten“ (tevarih, der Plural von tarih, „Datum“) – waren chronologisch geordnete Ereignislisten. Sie waren schmucklos und vorliterarisch, ohne offenkundige Analyseanteile. Die Annalen der Osmanenzeit erscheinen in takvim genannten Handschriften neben den Annalen anderer Dynastien. 43Takvim war ein Begriff aus der Astronomie, der eine jährliche Ephemeridentabelle bezeichnet, die für jeden einzelnen Tag des Jahres die Positionen von Sonne, Mond und Planeten angibt. 44Astrologen benutzten die Takvim, um individuelle Horoskope zu erstellen und den Ausgang von Ereignissen vorherzusagen. Die Verwendung des Begriffs takvim für Listen historischer Daten deutete darauf hin, dass Annalisten Daten für die Erforschung von Mustern und Verbindungen in historischen Ereignissen bereitstellen sollten. Denen, die sie erlebten, war der Sinn von Ereignissen manchmal zwar unklar, gleichwohl lautete die Prämisse der Astrologie, dass das menschliche Leben Teil einer ganzheitlichen Ökologie der Schöpfung sei, deren grundlegende Prinzipien und Bestimmung letztendlich der Vernunft zugänglich sein müssten. 45So wie die Bewegungen der Himmelskörper auf Einzelschicksale hindeuteten, so bildeten die Muster des historischen Verlaufs mit all seinen Überraschungen und Absonderlichkeiten ein Tableau der verborgenen Bestimmung der Gesellschaft.
Man sollte den geistigen Tiefgang der Annalen nicht unterschätzen. Schließlich ging es in ihnen um die Zeit und deren Bedeutung. Annalen setzten dieselbe hochentwickelte, philosophisch fundierte Astronomie voraus, die der wissenschaftlichen Arbeit überall im südwestlichen Eurasien zugrunde lag. Es war jene Astronomie, die auch Kopernikus benutzte, 46und die in osmanischen Medresen und Tekken gelehrt wurde; dort verfügte man beispielsweise über eine neue türkische Übersetzung von Nasir al-Din Tusis grundlegendem Text über Kalender. 47Die ältesten bislang entdeckten osmanischen Annalen, die aus der Herrschaftszeit Sultan Murads II. stammen (1421–51), sind ihrerseits Kopien und Fortsetzungen noch älterer Texte. Die Praxis dürfte also fast bis in die Anfänge der Dynastie zurückreichen. 48Die Einträge führen schlicht Ereignisse auf, wobei sie sich der Formel bedienen: „Es ist so und so lange her, seit …“ Einer beginnt beispielsweise mit folgendem Satz: „Es ist 205 Jahre her, seit Osman Bey in Erscheinung trat.“ 49
Die ersten Einträge sind kurz und vage, und die eigentlichen Ereignisse wurden durch wiederholtes Abschreiben heillos entstellt. Doch allmählich werden die Einträge ausführlicher und schließen nicht nur Feldzüge ein, sondern auch Geburten, Beschneidungen und Eheschließungen der Sultanssöhne, den Tod wichtiger Persönlichkeiten, Kometen und Sonnenfinsternisse samt der durch sie verursachten Panik sowie Katastrophen, etwa Erdbeben und Seuchen. Bei Hofe Annalen zu führen, war, anders gesagt, eine Methode, aktuelle Ereignisse in einen Kontext einzubetten, in dem sich politische Geschichte, Natur- und Heilsgeschichte vereinten.
Indem sie Elemente von Gesten und Annalen verknüpften, schufen Aşıkpaşazade und andere Chronisten etwas, das sich von beiden Vorläufergattungen völlig unterschied. An die Stelle der Verwendung schauriger Schreckensbilder und grotesker Elemente in den Gesten und die moralische Neutralität der Annalen trat ein entschiedener Moralismus. Wo die Annalisten den Sinn der Zeitäufte im Dunkeln ließen, fassten Aşıkpaşazade und die Chroniken ihn in Worte – die verborgene Bestimmung der Gesellschaft war die schicksalhafte Ausdehnung der islamischen Souveränität mittels der gazas der Osmanensultane. Die osmanischen Siege über andere Muslime spielte Aşıkpaşazade herunter; er erwähnte auch nicht die christlichen Heere, die in Wirklichkeit als Vasallen an der Seite der Osmanen kämpften, und er zeigte keinerlei Interesse an der Art von spontanem interreligiösen Dialog, zu dem es gelegentlich kam, beispielsweise als der christliche Kaiser Manuel 1391 zusammen mit Sultan Bayezid Krieg gegen den Muslim Burhanettin von Sivas führte. 50Die politische Bedeutung der Chronik war der neuen Gattung inhärent: Der Stammbaum der Dynastie war eine Metapher für die Geschichte, deren Ziel die Ausdehnung der islamischen Souveränität auf die ganze Erde war.
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