»Wenn das ein Little One ist«, fragte Caitlin, »wie groß ist denn dann ein Big One ?«
In Augenblicken wie diesem wandte sich anscheinend jeder an Frank. Gerne hätte er ihnen bei solchen Fragen entgegnet, dass er Werbetexter war, kein Dichter und schon gar kein Journalist, doch sie wollten, dass er es ihnen erzählte. Er hatte es zwar lediglich in den Nachrichten gesehen – der Rest der Gruppe auch, soweit er wusste –, doch sie erachteten ihn trotzdem als ihren Fachmann im Umgang mit Worten. Caitlin folgte den Blicken der anderen, wobei ihre fragenden Augen funkelndes Sonnenlicht auf ihn warfen. Er wandte sich kurz von ihr ab und räusperte sich, bevor er sprach: »Ein Big One ist … Bist du jemals mit einem Flugzeug gereist, Cate?«
»Als Baby«, erwiderte sie. »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.« Da sie neunzehn war, musste sie auf die Welt gekommen sein, kurz, nachdem das alles begonnen hatte und bald darauf hatten kommerzielle Fluggesellschaften den Betrieb wohl nach und nach eingestellt. Frank überlegte ein paar Sekunden lang. »Also, Flugzeuge wie sie dich und mich damals befördert haben, stiegen für gewöhnlich dreißigtausend bis fünfunddreißigtausend Fuß hoch, bis in die Wolken also. Manchmal ist man über ihnen geflogen und konnte von den Fenstersitzen aus auf sie hinunterschauen, das war schon ziemlich fantastisch.« Es stimmte wirklich. Der Mensch hatte zu jener Zeit den Himmel und darüber hinaus noch weitaus mehr beherrscht, die ganze Exosphäre mit ihrem unvorstellbaren Wust aus Satelliten und Schrott. Doch in diesem Fall ging es um den Big One , der jetzt in Chicago stand, bereits seit Jahren schlafend. Was schlafend bedeutete, war dahingestellt. Die meisten Menschen ließen es geflissentlich darauf beruhen, damit ihre wiederkehrenden Albträume nicht noch schlimmer wurden.
»Der Big One «, fuhr Frank fort, »ist ungefähr sieben Meilen hoch. Das sind annähernd siebenunddreißigtausend Fuß. Er schwebt also nicht nur sprichwörtlich mit dem Kopf über den Wolken.« Caitlin nahm diese Redewendung nicht zur Kenntnis, und so sprach er einfach weiter: »Der höchste Berg auf der Erde ist der Mount Everest, und der Big On e überragt ihn noch einmal um achttausend Fuß. Man hat nie herausgefunden, wie so etwas Hohes und Schweres überhaupt laufen kann.«
»Die meisten Leute nennen ihn übrigens gar nicht Big One «, warf Quebra ein, der immer noch durch seinen Feldstecher schaute. »Sie sprechen von dem Drachen und dergleichen. So sieht er aber gar nicht aus, besonders jetzt nicht. An etwas, das so groß ist, einzelne Merkmale auszumachen, ist schwierig. Er war schon immer eher wie ein sehr hoher Berg.«
»Mir hat es der Ausdruck Höllengänger angetan«, meinte Chia leise. Er schaute die anderen an. »Sehr theatralisch ... wie aus der Bibel, finde ich, aber wenn mir je etwas von biblischem Ausmaß untergekommen ist, dann dieses Ding.«
Andere nannten es einfach das Tier , und es gab je nach Sprachraum und Religionszugehörigkeit noch weitere Variationen, doch Chia hatte recht: Höllengänger brachte es durchaus treffend auf den Punkt, nur dass die Kreatur nicht mehr ging und es – so Gott existierte – auch nie wieder tun würde.
Außer natürlich, er selbst hatte sie gesandt.
Autumn zeigte auf den Little One , der auf dem Parkplatz lag. »Wir haben schon einmal einen gesehen. Dabei waren wir zwar nicht ganz so nahe dran wie jetzt, aber …« Ihre Stimme verklang, und sie drückte Caitlin fest an sich. Fast hätte sie sich dazu hinreißen lassen, etwas Persönliches zu äußern und eine Vorgeschichte preiszugeben.
Caitlin tat es dann tatsächlich: »Ich erinnere mich. Weil ich hinten im Van unter einem Haufen Zeug lag, bekam ich nichts davon mit, aber es muss zu der Zeit gewesen sein, als wir noch im Tornadogürtel gewesen sind. Ich habe drei Windhosen, die hinter uns hergejagt sind, gesehen, bevor mein Kopf unter ein paar Gepäckstücke geschoben wurde.« Sie schaute Autumn aus den Augenwinkeln an, um anzudeuten, dass ihre große Schwester dies getan hatte. »Wir sind dort aufgewachsen. Es heißt, die Stürme seien wegen der Monster nur noch heftiger geworden. So sind auch Mom und Dad gestorben.«
»Caitlin!«, herrschte Autumn sie an.
»Stimmt doch! Und wir versuchten dann, diese drei Tornados mit den Gundersons zusammen in deren Van abzuhängen. Dann erblickte Autumn aber einen Little One hinter den Windhosen und drückte mich runter, bevor ich ihn auch sehen konnte. Sie meinte, sie könne ihn ganz deutlich erkennen, und er würde laufen !«
Frank sagte nichts dazu, sondern vollzog nur den Stimmungswandel zwischen den Geschwistern mit, aber Duckie meldete sich zu Wort: »Er rannte vor den Wirbelwinden weg? So heißen Tornados nämlich auch: Wirbelwinde.«
»Richtig«, bestätigte Caitlin mit abwesendem Blick, »aber nein, er ist hinter uns hergelaufen.«
»Sie haben es also doch auf Menschen abgesehen«, sagte Quebra. »Das erkannten auch wir schon früh. Deswegen orientierten sich die meisten auch an Städten, selbst solche wie den hier, die es umgehauen hat. Immerhin tauchen ja immer wieder neue Menschen auf.«
»Menschen wie wir«, knurrte Chia. »Aber wir wurden gelinkt, ansonsten wären wir nie hergekommen.«
»Dann hättet ihr aber Duckie und mich auch nicht gerettet«, gab O’Brien zu bedenken. Dem setzte niemand etwas entgegen.
»Ja, ihr habt uns wirklich gerettet«, betonte sie wieder, »und wir würden uns euch gern anschließen. Ich weiß, wir kommen euch vielleicht wie ein Klotz am Bein vor, aber wir können auch mit anpacken. Duckie ist viel, viel stärker, als er aussieht.«
»Bin ich«, bekräftigte der Junge. »Viel, viel, viel.«
»Na ja«, erwiderte Chia, »nicht dass wir abstimmen würden oder so etwas, aber ich schätze, es sollte formell beschlossen werden: Hat irgendwer ein Problem mit diesen beiden netten Personen?«
Dodgers Schweigen war bedrückend – als hätte er auch jemals nur die Hälfte seines eigenen Gewichts tragen müssen –, aber wenigstens bewies er jetzt Anstand und hielt seine dumme, verzogene Klappe.
Es schien so, als habe der Little One , der tot auf der anderen Straßenseite lag, jeglichen Reiz des Neuen eingebüßt.
Schon seltsam, wie ein Moment unverfälschter Menschlichkeit so etwas schaffen kann , dachte Frank.
Dann fiel ihm plötzlich auf, dass es, obwohl der Wind gerade aus der Richtung des Toten wehte, nicht nach Verwesung stank. Im Grunde lag überhaupt kein bemerkenswerter Geruch in der Luft. Er tippte Quebra auf die Schulter.
»Ja, Boss?«, murrte der Soldat.
»Können wir irgendwie sichergehen, ich meine zu hundert Prozent, dass das Ding da tot ist?«
»Es liegt schon mindestens eine Woche dort«, sagte O’Brien daraufhin.
Dodger schob seine Hände in die Hosentaschen und begann, auf und ab zu gehen. »Stimmt. Vielleicht sollten wir uns zurückziehen. Außerdem ist da ja auch noch die Krankheit und ich würde gern vermeiden, dass sich jemand von uns infiziert.«
»Wir rühren ihn nicht an, Dodgman«, versicherte ihm Quebra.
»Wer weiß, was er selbst angerührt hat«, blaffte Dodger zurück. »Ihr wisst doch, dass sie die Krankheit verbreiten! Was, wenn er diesen ganzen Ort schon mit Blut, Rotz oder Scheiße versaut hat, bevor er verreckt ist?«
»Ist ja gut, ist ja gut«, beschwichtigte ihn Chia. »Unser Freund hat nicht ganz Unrecht. Ich finde, wir haben genug gesehen. Belassen wir es dabei und ziehen weiter.«
Als etwas leise und tief dröhnte – es klang wie ein Furz –, musste Duckie plötzlich lachen. Franks Blick fiel auf den Little One , und eine Sekunde lang war er sich sicher, sogar zu zweihundert Prozent, dass sich die Kreatur bewegt hatte. O’Brien kniff den Jungen, damit er schwieg, ehe sie alle auf den Riesen starrten.
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