Seit dem Ersten Weltkrieg wurden Schlachten in Stil und Sprache anders geschildert als zuvor: Statt Erzählungen von heldenhaften Abenteuern gab es nun Bestandsaufnahmen von sinnlosem Leiden. Der feierlich-erhabene Ton der offiziellen Kriegsberichterstattung vermochte die quälende Erfahrung des Grabenkampfes nicht angemessen zu erfassen. Viele der Briefe, die Soldaten von der Front nach Hause sandten, vermieden es gezielt, irgendein Detail der grauenerregenden Vorgänge während der Gefechte zu erwähnen. Dadurch entfremdeten sich die Schlachtfelder und das tatsächliche Geschehen dort von der Heimatfront, während man die entstehende Kluft mit den hohlen Phrasen der Kriegspropaganda überbrückte. Während patriotische Autoren wie Walter FlexFlex, Walter oder Rupert BrookeBrooke, Rupert anfangs den Waffengang noch zu romantisieren versuchten, sahen sich andere Dichter, etwa die britischen war poets Robert GravesGraves, Robert und Wilfred OwenOwen, Wilfred, angesichts des Unbeschreiblichen, das sie in den Gräben erlebt hatten, dazu nicht länger imstande. Verse, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Kämpfe entstanden, feierten nun immer seltener patriotische Tugenden und schockierten dafür immer häufiger mit der Ausmalung der Sinnlosigkeit des Leidens.3 Die literarischen Anstrengungen, solche Empfindungen wiederzugeben, beförderten die modernistischen Trends zur Auflösung der Einheit von Form und Sinn.
Da, wie sich zeigte, die Fotografie die Gräuel der Front besser einfing, verstärkte der Krieg die Abkehr der Künstler von den Stilen der Gegenständlichkeit. Man mochte den Krieg nicht mehr in den traditionellen großformatigen, durchkomponierten Schlachtszenen darstellen; wer die Grabengefechte der jüngsten Zeit visualisieren wollte, präsentierte verwüstete Landschaften mit wirr verstreuten Leichen. Eindringlicher noch waren George Grosz’Grosz, George porträtartige Bilder, die den entstellenden Wirkungen des Krieges auf die Menschengestalt einen dramatischen Ausdruck gaben. Die Erfahrung des Krieges verlieh der Lossagung vom Realismus, die mit Henri MatisseMatisse, Henri und den Fauvisten begonnen hatte, zusätzlichen Schub; schon sie komponierten Flächen aus intensiven Farbtönen, die keine fotografische Ähnlichkeit mehr bezweckten. Die Kampferlebnisse beschleunigten dann den Trend zur Abstraktion, dessen Pioniere der französische Maler Georges BraqueBraque, Georges und sein exilrussischer Kollege Wassily KandinskyKandinsky, Wassily waren. Letzterer erklärte Formen und Farben entschieden zu autonomen kompositorischen Elementen, denen geometrische Linien Struktur und Begrenzung gäben; die klassische Perspektivlehre wurde verworfen. Schließlich bestätigte das, was sie von den Grabengefechten mitbekamen, auch die expressionistischen Impulse vieler Künstler; sie fühlten sich, wie der deutsche Maler Emil NoldeNolde, Emil, nun ermuntert, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen in kräftigen Farben und dynamischem Pinselduktus.4 Insgesamt bestärkte der Erste Weltkrieg also die modernistische Neigung zu Experimenten mit nicht-figurativen Stilen.
Das furchterregende Dröhnen der Front und das Getöse der durchmechanisierten Innenstädte ermutigte in Musik und Tanz einzelne Kunstschaffende, den Übergang von der Dissonanz zur Kakophonie zu wagen; bestenfalls das Unverständnis der Konzertbesucher konnte ihren Eifer bremsen. Schon 1913 schockierten der russische Komponist Igor StrawinskyStrawinsky, Igor und sein Landsmann, der Ballettmeister Sergei DjagilewDjagilew, Sergei, das Pariser Publikum mit einer ungestümen Produktion namens Le sacre du printemps (»Die Frühlingsweihe«), deren Rhythmuskaskaden und schrille Akkorde Vorstellungen eines orgiastischen Primitivismus erweckten. Der Krieg selbst inspirierte Komponisten wie Leoš JanáčekJanáček, Leoš, Béla BartókBartók, Béla und Maurice RavelRavel, Maurice zu einem gewagten Umgang mit dem nationalen musikalischen Erbe: Sie nahmen einheimische Volksweisen und transformierten sie zu unstrukturierteren und abstrakteren Klanggebilden. StrawinskyStrawinsky, Igor vertrat entschieden die Parole »Il faut absolument être moderne« (»Modernsein ist Pflicht«), und diese Attitüde dominierte die Nachkriegsszene. Entsprechend machte man Experimente aller Art, von Erik SatiesSatie, Erik subtilen Collagen bis zu Jean CocteausCocteau, Jean Anspruch, »Musik des Alltagslebens« zu komponieren. Die Begegnung mit dem Jazz erweiterte das melodische und rhythmische Vokabular, wovon so verschiedenartige Komponisten wie Darius MilhaudMilhaud, Darius und Kurt WeillWeill, Kurt profitierten. Paul HindemithHindemith, Paul postulierte: »Tonschönheit ist Nebensache«, während Arnold SchönbergSchönberg, Arnold und seine Schüler furchtlos in ein ganz neues Universum vorstießen – das Zwölftonsystem.5
Was die Literatur betraf, so beschleunigte die Kriegserfahrung die Auflösung der linearen chronologischen Erzähltechnik, bei der die Entwicklung von Charakteren im Vordergrund stand, zugunsten assoziativer Muster, die die Funktionsweise des Bewusstseins samt seinen raschen Richtungsänderungen und Sprüngen imitierten. Der hypersensible französische Romancier Marcel ProustProust, Marcel konstruierte sein gewaltiges fünfzehnbändiges Meisterwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als eine Art introspektive Expedition: Der Protagonist erkundet seine Erfahrungen in der PariserParis Gesellschaft durch genaue Prüfung seiner Erinnerungen, die per Assoziation ausgelöst werden. Der phantasievolle Franz KafkaKafka, Franz, Tscheche mit jüdisch-deutschem Hintergrund, schilderte die Absurdität des Lebens in brillanten metaphorischen Texten, darunter Die Verwandlung , die seine Leser so verwirrt wie fasziniert zurückließen, weil eine fest umrissene Botschaft fehlte. Etwa um dieselbe Zeit saß ein anderer Avantgardist, der katholische Ire James JoyceJoyce, James, im selbst auferlegten Exil – während der Kriegsjahre ZürichZürich, danach ParisParis – an einem epischen Monumentalwerk mit dem Titel Ulysses . Darin evozierte er seine Geburtsstadt DublinDublin und benutzte eine komplexe Technik des Bewusstseinsstroms. Auch sparte er weder an Anspielungen auf die klassische Antike noch an sarkastischem Humor, was dem Roman zunächst Verbote wegen Unsittlichkeit in den USAVereinigte Staaten und dem Vereinigten Königreich einbrachte.6 Diese modernistischen Texte schockierten die Autoritäten nicht nur, weil sie sexuelle Themen ganz offen behandelten, sondern auch, weil sie Türen zu den Bereichen des zuvor Undenkbaren und Unsagbaren aufstießen.
Die Entwicklungen nach dem Krieg verwandelten bei vielen Kulturschaffenden die Utopie eines Freiheit bringenden urbanen Lebens in die Dystopie einer bedrohlichen, ausbeuterischen Megalopolis. Fritz LangsLang, Fritz Film Metropolis (1927) dreht sich um den Konflikt zwischen Kapitalisten und Proletariern in einer futuristischen Großstadt, die von einem technischen Zentralsteuerungsmoloch beherrscht wird, der »M-Maschine«. Im Vordergrund steht die Liebe zwischen dem Sohn des Ober-Ausbeuters und einer jungen Arbeiterfrau; die reichlich verschachtelte Handlung unterstreicht die Botschaft, »das Herz vermittle zwischen Hand und Hirn«. Der Film war bahnbrechend auf dem Gebiet der special effects ; so präsentierte er u. a. einen »Maschinenmenschen« sowie einen dem Turm zu Babel ähnlichen Wolkenkratzer; dank des raffinierten Einsatzes von Spiegeln und kleinen Modellkonstruktionen konnten reale Schauspieler in fiktiven Räumen agieren. Obwohl der Film ein Happy End hatte, trugen gerade die Trickaufnahmen, die meist Beklemmendes zeigten, dazu bei, dass eine Metropole, in der die Maschinen dominierten, als ein Ort ohne Gnade erscheinen musste. Ähnlich verhielt es sich bei Alfred DöblinsDöblin, Alfred breit angelegtem Collageroman Berlin Alexanderplatz . Darin erlebt der Leser, wie der straffällig gewordene Arbeiter Franz Biberkopf sich vergebens bemüht, anständig zu werden, und letztlich an der Gleichgültigkeit des gnadenlosen Klassensystems zugrunde geht.7 In solchen Filmen und Romanen bewirkt die Metropole, dass die Bewohner sich selber und untereinander entfremden, und verschlingt sie am Ende. Ihre Unpersönlichkeit, die sozialen Spannungen und die Übermechanisierung, die in ihr obwalten, haben letztlich einen entmenschlichenden Effekt.
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