Joseph Ponthus
Aufzeichnungen aus der Fabrik
Aus dem Französischen von
Mira Lina Simon
in Zusammenarbeit mit
Claudia Hamm
DIESES BUCH
IST FÜR KRYSTEL UND VERDANKT IHR ALLES
ICH WIDME ES MEINEN BRÜDERN
DEN PROLETARIERN ALLER LÄNDER
DEN ANALPHABETEN UND DEN ZAHNLOSEN
MIT DENEN ICH SO VIEL
GELERNT GELACHT GELITTEN UND GEARBEITET HABE
CHARLES TRENET
OHNE DESSEN LIEDER
ICH NICHT DURCHGEHALTEN HÄTTE
M.D.G.
UND
MEINER MUTTER
Teil 1 I »Fantastisch, was sich alles ertragen lässt.« GUILLAUME APOLLINAIRE (Brief an Madeleine Pagès, 30. November 1915)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Teil 2
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Ich danke
Zitatnachweise
»Fantastisch, was sich alles ertragen lässt.«
GUILLAUME APOLLINAIRE
(Brief an Madeleine Pagès, 30. November 1915)
Bevor ich in die Fabrik kam
Dachte ich natürlich an
Den Gestank
Die Kälte
Das Schleppen schwerer Kisten
Die Erschöpfung
Die Arbeitsbedingungen
Das Fließband
Moderne Sklaverei
Ich bin dort nicht für eine Reportage hin
Und schon gar nicht für die Revolution
Nein
Die Fabrik ist für die Kohle
Ein Brotjob
Wie man so sagt
Weil meine Frau es satt hat mich auf der Couch auf eine Stelle in
meiner Branche warten zu sehen
Also
Lebensmittelindustrie
LM
Wie man hier sagt
Eine bretonische Fisch- und Garnelenproduktions- und
-verarbeitungs- und -gar- und all das -fabrik
Ich geh dort nicht zum Schreiben hin
Sondern für die Kohle
In der Zeitarbeitsfirma werde ich gefragt wann ich anfangen kann
»Wenn morgens fahle Sonne frühe Gärten bleicht«
Antworte ich so schlicht wie Hugo
Beim Wort genommen fange ich am nächsten Morgen um sechs Uhr
an
Im Laufe der Stunden und Tage setzt sich das Bedürfnis das zu
beschreiben hartnäckig fest wie eine Gräte im Rachen
Nicht die Eintönigkeit der Fabrik
Sondern ihre paradoxe Schönheit
An meinem Förderband denke ich oft an eine Parabel von ich glaube
Claudel
Auf seinem Pilgerweg von Paris nach Chartres trifft ein Mann einen
Arbeiter beim Steineklopfen
Was machen Sie da
Meinen Job
Felsblöcke rollen
Scheiße
Mein Rücken ist hin
Sauerei
Müsste verboten sein
Zum Verrecken
Ein paar Kilometer weiter ein zweiter bei der gleichen Arbeit
Gleiche Frage
Ich schufte
Muss die Familie ernähren
Das ist hart
Aber ist halt so und ist immerhin Arbeit
Das ist das Wichtigste
Noch weiter
Kurz vor Chartres
Ein dritter Mann
Mit strahlendem Gesicht
Was machen Sie da
Ich baue eine Kathedrale
Mögen meine Garnelen und meine Fische meine Steine sein
Ich rieche den Gestank der Fabrik nicht mehr der mir zuerst in die
Nase stach
Die Kälte ist mit dickem Pullover Kapuzenpulli zwei Paar Socken und
langer Unterhose erträglich
Die schweren Kisten lassen mich Muskeln entdecken von denen ich
bislang nichts wusste
Die Knechtschaft ist freiwillig
Fast beglückend
Die Fabrik hat mich gekriegt
Ich sage nur noch
Meine Fabrik
Als sei ich kleiner Zeitarbeiter unter all den anderen irgendwie
beteiligt an der Fisch- und Garnelenproduktion oder den -maschinen
Bald
Produzieren wir auch Muscheln und Schalentiere
Krebse Hummer Seespinnen und Langusten
Ich hoffe bei dieser Revolution noch dabei zu sein
Und Scheren zu klauen obwohl ich jetzt schon weiß
Das wird nichts
Nicht mal die kleinste Krabbe dürfen wir uns angeln
Will man ein paar verdrücken muss man sich gut verstecken
Noch nicht unauffällig genug hat die alte Brigitte gesagt
»Ich hab nichts gesehen aber pass auf wenn die Chefs dich
drankriegen«
Seitdem pul ich sie klammheimlich unter der Schürze mit meinen
drei Paar Handschuhen die mich vor Feuchtigkeit Kälte und
allem anderen schützen und futtere an Naturalien was ich für das
Mindestmaß an Erkenntlichkeit halte
Ich schweife ab
Zurück zum Schreiben
»Ich schreibe wie ich spreche wenn der Feuerengel des Gesprächs
mich zum Propheten macht« schrieb in etwa ich weiß nicht mehr wo
Barbey d’Aurevilly
Ich schreibe wie ich denke an meinem Förderband schwirre alleine
unbeirrbar durch meine Gedanken
Ich schreibe wie ich arbeite
Am Fließband
Am laufenden Band
Die Schicht
Beginnt zwangsläufig am Anfang des endlosen weißen kalten Gangs
Bei den Stechuhren um die wir uns nachts drängen
Um vier
Um sechs
Um sieben Uhr dreißig morgens
Je nach Arbeitsauftrag
In der Entladung also beim Fischkistenleeren
In der Verarbeitung oder Enthäutung also beim Fischezerlegen
In der Garung also bei allem was mit Garnelen zu tun hat
Noch hatte ich zum Glück keine Nachmittags- oder Abendschicht
Beginn sechzehn Uhr Ende um Mitternacht
Hier
Sind sich alle einig
Und bis jetzt sehe ich das auch so
Je früher
Desto besser – auch wenn es nachts zwanzig Prozent mehr gibt –
Dann »haste deinen Nachmittag«
»Wenn schon früh
Dann richtig früh«
Ach was
Acht Stunden Arbeit
Sind acht Stunden Arbeit egal wann
Und dann
Geht man heim
Feierabend
Kommt nach Hause
Gammelt
Döst
Und denkt schon an den Wecker
Egal wann er klingelt
Er klingelt immer zu früh
Nach dem Tiefschlaf
Den Kippen und dem heruntergekippten Wachmachkaffee
Gehts in der Fabrik
Knallhart los
Als hätte es kein Aufwachen gegeben
Gleitet man wieder in einen Traum
Oder Albtraum
Das Neonlicht
Die mechanischen Griffe
Die im Halbschlaf umherschweifenden Gedanken
Das Ziehen Schleppen Sortieren Heben Wiegen Räumen
Wie beim Einschlafen
Versteht man nicht wie diese Griffe und Gedanken ineinanderfließen
Am laufenden Band
Wundert man sich immer wieder dass Tag ist wenn man Pause
machen rausgehen rauchen und einen Kaffee trinken kann
Ich kenne nur wenige Orte mit einer so
Kompromisslosen existenziellen radikalen Wirkung wie
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