Beim Frischfisch
Anfang der Woche kam ein neuer Zeitarbeiter der wiegt eine Ladung
Sardinen auf
Er ist nicht nur Drückeberger
Kippenschnorrer
Mitfahrgelegenheitswegschnapper
Nein er ist vor allem genauso kälteempfindlich wie
verständnisresistent
»Ist echt arschkalt in der Fabrik«
»Ist ne Frischfischfabrik da ists besser wenns kalt ist«
»Aber ich trag drei Paar Handschuhe und die Hände sind eisig«
»…«
»Denkst du ich kann den Chef fragen ob wir warmes Wasser in die
Fischkisten mit Eis kippen können das wär zum Arbeiten besser«
Der Gute hat als Kind zu heiß gebadet scheints
Und Arbeiten ist auch nicht so sein Ding
Die Sortierer
Ähneln den Büchermachern in der Gewerkschaft
Sie arbeiten allein
Im stillen Kämmerlein
Und haben echte Vorteile
Im Vergleich zu den anderen Fabrikarbeitern
Sie können sich fünf Minuten Verspätung erlauben
Um vier Uhr morgens bei Schichtbeginn
Ist die Raumtemperatur von acht Grad Celsius recht mild
Sie haben Anspruch auf zwei gesetzlich geregelte Pausen statt auf
eine die der Chef zuteilt
Kurze Zehn-Minuten-Kippe-Kaffee-Pause um sechs
Dreißig Minuten Kaffee-Kippen-Pause um halb neun
Die Arbeit ist nicht ganz so anstrengend
Und eintönig
Fünfundzwanzigkilokisten Fisch leeren und andere
Fünfundzwanzigkilokisten füllen
Klar denkt man da an die Shadoks
Aber ist halt Fabrikarbeit
Und macht Muskeln
Die Maschine geht niemals kaputt
Und die Fischarten wechseln
Seelachse Merlane schwarze Seelachse gelbe Seelachse Haarschwänze
Schellfische Seeteufel und vor allem und noch viel mehr Seelachse
aller Art
Soll ja nicht langweilig werden
Heute haben die Sortierer gestreikt
Alle anderen Arbeiter nicht
Ein Beweis für die errungenen Vorteile
Umso besser die Vorteile haben sie hart erkämpft
Bei Schichtbeginn waren wir nur zu zweit
Nach der ersten Pause kam Verstärkung
Wir haben Kisten um Kisten mit Haarschwänzen und Merlanen
sortiert
Wir haben die Arbeit geschafft
Und während ich das schreibe
Sortiere ich weiter
Nur diesmal Wortarten
Zwischen ein paar Tonnen Seelachsen Haar- und Rattenschwänzen
Hab ich heut dreihundert Kilo Chimären sortiert
Bis heute Morgen wusste ich nicht mal dass ein Fisch dieses Namens
existiert
Meine Chimären kamen nach der Pause
Lustige Fische mit zwei schönen Bauchflossen wie Flügel
Vielleicht heißen sie deshalb so
Vielleicht aber auch nicht
Damit war der Vormittag gerettet
Dass ich mir sagen konnte
Ich hab meine Chimären sortiert
Heut ist der 31. am Nachmittag geh ich zur Zeitarbeitsfirma meinen
Vorschuss holen denn vertragsgemäß werden wir erst am 11. des
Folgemonats bezahlt
Der Vorschuss beträgt maximal fünfundsiebzig Prozent der
geleisteten Arbeitszeit
Die Personalabteilung der Fabrik hat meine Stunden der letzten
Woche noch nicht bestätigt
Heißt ich bekomme nur fünfzig Prozent von dem was ich dachte
Noch eine Chimäre
In der Fabrik
Sortiere ich heut haufenweise Grenadierfische
In der Fabrik
Wünschen sich einige Kollegen selbst Grenadiere zu sein
Im militärischen Sinn des Worts
Seit dem Terroranschlag in Nizza am 14. Juli bei dem ein Lastwagen
in die feiernde Menge raste
Wünscht sich der eine sein Jagdschein hätte eine Sonderzulassung
für »Kakaken«
Die Mischung aus Kameltreiber und Makaken
Wünscht sich die andere man setze alle in ein Boot in den Atlantik
und schwupp unsere Fische hätten gut zu fressen
Verständigen sich viele auf Bürgerwehren wenn die Bullen schon
nichts taugen
Fabrice Le Noxaïc
Der für seinen Jagdschein die Sonderzulassung »Kakaken« will
Versieht mit einem schwarzen Filzstift seine Schutzausrüstung
Stiefel Kittel Hosen Handschuhe systematisch mit seinen Initialen
aber mit dem Nachnamen zuerst also LNF
Die Vorstellung wie es ihm auf den Sack gehen muss FLN zu
schreiben bringt mich zum Lachen
Vielleicht hieße er auch lieber Olivier-Antoine Schultz
Für einen Monat hab ich einen Job in meiner alten Branche
Und zum ersten Mal in meinem Leben
Werde ich Chef sein
Oder na ja
So wie es nicht mehr »Arbeiter« heißt sondern
»Produktionsmitarbeiter«
Werd ich nicht »Chef« sein sondern »Leitender Begleiter«
In diesem Fall bei einem Dutzend Ferienfreizeiten für »Menschen mit
Behinderung«
»Behinderte« sagt man nicht mehr und »Mongis« schon gar nicht
Im Norden Frankreichs zwischen Belgien und Paris
Dienstwagen Hotels und Spesen wenn alles gut läuft
Eine endlose Strecke wenn es sechshundert Kilometer von mir
entfernt Probleme gibt
Aber darum gehts jetzt nicht
Heut hatte ich im Kaff von Ker Breizh dem Zentrum vom Arsch der
Welt der Bretagne eine Schulung um meine Cheffitüde zu trainieren
und meine Teams in spe zu treffen die Teamer und Begleiter
Von heut auf morgen vom Rhythmus der Fabrik zu dem der
Sozialarbeit zu wechseln
Ist als wechselte man von einem Arbeitsbegriff zu einem anderen
und zwar im marxistischsten Sinn des Wortes
Kaffee Kippe Pause Kaffee Kippe Pause »Austausch unter Kollegen«
Kippe Kaffee und so weiter Pause
Garnelen Wellhornschnecken Garnelen Garnelen Kisten und weitere
Kisten und wieder diese Scheißgarnelen und auf die Pause warten die
der Chef zuteilt und wieder Garnelen Wellhornschnecken Garnelen
Garnelen
Hier wie dort Unterordnung und Verkauf meiner Arbeitskraft
Unter der Woche untergeordneter Arbeiter
Diesen Samstag frischgebackener Chef
Eine meiner zukünftigen »Mitarbeiterinnen« in Hippielook wie frisch
vom Festival Vieilles Charrues die Haare in Dreadlocks wie
selbstgedrehte Kippen will mich kurz unter vier Augen sprechen
»Also du bist hier mein Leitender Begleiter«
»Ja«
»Na ja also ich glaub ja unsere Freizeitteilnehmer sollten echt ne gute
Freizeit haben weil ist halt ihre Freizeit«
»…«
»Weil schau uns selbst an wenn man keine gute Freizeit hat ist es halt
auch keine echte Freizeit«
An manchen Samstagen bedauert man seine Arbeitskraft nicht an die
Garnelen und Wellhornschnecken verkauft zu haben die zumindest
nicht ganz so viel reden
Die Cheffitüde bei den Mongis
Ist vorbei
Drei Wochen »work ’n’ travel«
Wie junge Leute sagen
Fünfzehn Tage Workation
Ich habe viel am Steuer gesessen
Sehr viel
Habe an Le Conscrit des cent villages von Aragon gedacht
Das Defilee von Glockentürmen und klingenden Ortschaftsnamen
Von der Normandie über die Region Nord-Pas-de-Calais
Die ich wohl nie Hauts-de-France nennen werde
Bis nach Belgien
Habe mehr Käffer und Straßen gesehen
Als Leute
Dunkerque Saint-Valéry-en-Caux Fécamp Berck-sur-Mer
La Roche-Guyon Étampes Trouville Verviers Westrozebeke und
Ostende und bei den belgischen Vettern Vétheuil Vernon
Verneuil-sur-Avre Beuvron-en-Auge
Ein Frankreich der Unterpräfekturen
Der Marktplätze mit Kopfsteinpflaster und Fachwerkhäusern
Der flämischen Glockentürme
Und Erinnerungen an die Kriege
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