Ich beschreib mal die Szene
Es ist vierzehn Uhr dreißig
Ich wache auf nach einer Nacht die um acht Uhr morgens begann
Ich soll um zwanzig Uhr dreißig anfangen um fünf hab ich Schluss
Die Zeitarbeitsfirma ruft an Dienstplanänderung
Von neunzehn Uhr bis vier Uhr dreißig macht mit der üblichen
halben Stunde Pause gut neun Stunden Arbeit
Soll ich nicht zum Panierfisch sondern zu den Fertiggerichten die
meine Fabrik ebenfalls herstellt
Ich mach mich an die Arbeit
Ich tropfe Tofu ab
Ich sag mir diesen Satz auf
Wie ein Mantra
Fast
Wie ein Zauberspruch
Ein Segen
Ein Passwort
Eine Art Resümee der Sinnlosigkeit des Lebens der Arbeit der ganzen
Welt der Fabrik
Ich lach mich schlapp
Ich träller im Kopf Y a d’ la joie vom guten Trenet um mich in Gang zu
kriegen
Ich denk an den berühmten Shakespeare-Vers in dem die Welt eine
Bühne ist und wir nur schlechte Schauspieler
Ich wär bestimmt ein guter Kandidat für die TV-Show Kamoulox
»Ich träller Trenet und tropfe Tofu ab«
»Lei-der falsch drei Pa-nier-fi-sche zu-rück«
Ich finde Tofu widerlich und gäb es keine Vegetarier gäbs auch nicht
dieses Tofutrallala
Denk ich mir eben Reime aus die schön zu klingen scheinen
Tofuabtropfer
Bohnenquarkopfer
Die Griffe werden langsam mechanisch
Mit dem Cutter aufschneiden
Den Karton mit zwanzig Kilo Tofu öffnen
Die Dreikilobeutel auf die Arbeitsfläche packen
Mit dem Cutter aufschneiden
Die Beutel öffnen
Den Tofu senkrecht auf ein waagerechtes Stahlsieb packen durch das
die brackige Flüssigkeit abtropft
Den Tofu eine Zeit lang abtropfen lassen
Eine Zeit lang
Wie Fernand Raynaud gesagt hätte
Hätte man ihn gefragt wie lange ein Kanonenrohr braucht um
abzukühlen
Wer erinnert sich noch an Fernand Raynaud und seine Sketche die
heute so altmodisch wirken
Beim Tofuabtropfen versuche ich mich an die Sketche von Fernand
Raynaud zu erinnern
Le 22 à Asnières
La Chemise lilas
Pourquoi tu tousses
Le Fût du canon
Ich erinnere mich wie gern meine Oma sie mir im Fernsehen gezeigt
hat als ich klein war
Ich denk an sie sie fehlt mir
Ich erinnere mich an
Ich erinnere mich von Georges Perec
Klar
Ich tropfe Tofu ab
Ist der Tofu einmal abgetropft
Füll ich ihn in einen Bottich mach Folie drauf stell den Bottich in
eine Ecke wo er drauf wartet irgendeinem Fertiggericht beigegeben
zu werden
Was nicht mehr meine Aufgabe ist
Von Zeit zu Zeit
Fahr ich die großen Säcke in die ich meinen Papp- und Plastikmüll
sortiere
Mit einem Gabelstapler zu den Mülleimern nach draußen
Das tut gut
Zum Müll fahren
Ist mal was anderes
In meiner alten Fabrik
War ich kürzlich noch
Chimärensortierer
Das machte irgendwie mehr her
Tofuabtropfer
Wer nicht selbst mal nachts neun Stunden lang Tofu abgetropft hat
kann das nicht verstehen
Oh Mann
Ich Klugscheißer weiß es und du nicht
Dabei gibts hier rein gar nichts woraus man Stolz beziehen könnte
Oder Verachtung für die Nichtarbeiter
Die Verachtung
Ich denke an Godards Meisterwerk versuche mich an George Delerues
Leitmotiv für Camille zu erinnern eine Musik die glaube ich gut zu
dieser Atmosphäre passen würde
Die sehr gut passen würde
Aber ich erinnere mich nicht
Silenzio
Die Stunden vergehen und vergehen nicht ich bin verloren
Ich bin in einer paradoxen Ekstase halbschlafend halbwach fast wie
beim Eindämmern wenn die Gedanken durch die Aktivität des
Unterbewusstseins umherschweifen
Aber ich träume nicht
Ich albträume nicht
Ich schlafe nicht ein
Ich arbeite
Ich tropfe Tofu ab
Ich sage mir den Satz auf
Wie ein Mantra
Ich versuche mich an meinen Reim von vorhin zu erinnern aber ich
erinnere mich nicht
Ich sage mir man muss schon ganz schön fest an seine Kohle glauben
und dass die auch noch kommt die Liebe zum Absurden oder die
Literatur
Um weiterzumachen
Ich muss weitermachen
Tofu abtropfen
Von Zeit zu Zeit
Zum Müll fahren
Morgens um ein Uhr zehn ist Pause
Sie dauert bis ein Uhr vierzig
Ich weiß nicht ob eine Pause nach über sechs Stunden Arbeit legal ist
Aber ich scheiß drauf
Noch drei Stunden Tofu abtropfen
Kippe
Kaffee
Kippe
Snickers
Kippe
SMS von meiner Frau die um dreiundzwanzig Uhr an mich gedacht
hat
Ich lächele
Wenn sie wüsste
Aber die Zeit ist um
Ein letzter Kippenzug zum Zeichen des Widerstands
Haste gesehen Fabrik haste gesehen Tofu meine letzte Kippe kriegste
nicht
Schön wärs
Ich drück sie schnell aus
Schnell zur Umkleide
Kittel
Stechuhr
Weiter gehts
Ich tropfe Tofu ab
Noch drei Stunden
Nur noch drei Stunden
Ich muss weitermachen
Ich tropfe Tofu ab
Ich werde weitermachen
Die Nacht hört nicht auf
Ich tropfe Tofu ab
Die Nacht hört nicht mehr auf
Ich tropfe Tofu ab
Ich tropfe Tofu ab
Ich habs satt aber in der Fabrik sagt man nichts
Es ist Wochenende
Ich kann nicht schlafen
Um diese Uhrzeit müsste ich am Band stehen
Noch zwei Stunden arbeiten
Noch zwei Stunden malochen
In der Fabrik
Am laufenden Band
Es ist Wochenende
Zeit die Arbeitskraft zu regenerieren
Also
Ausruhen
Schlafen
Leben
Und zwar nicht in der Fabrik
Aber sie frisst mich auf
Die Schlampe
Zu Hause habe ich draußen beim Rauchen
Die gleichen Reflexe wie in der Pause
Schnell ziehen und an der Kippe eine Kippe anzünden
Übermorgen muss ich zurück in die Fabrik
Doch mir kommts vor als wärs schon
Morgen
Schon den Schlafrhythmus anpassen
Den Lebensrhythmus
Den die Fabrik diktiert
Ich muss zurück
Ich muss schlafen
Ich muss
Ich habe die Fabrik so satt
Den Scheißrhythmus
Das sinnlose Tun jede Nacht
Nichts sagen
Schreiben
Die Muskeln tun weh
Die Pause tut weh die ich jetzt haben müsste aber nicht habe
Während ich zu Hause meine Kippe rauche
Bin ich immer noch in der Fabrik
Wer könnte mich morgen oder übermorgen mit dem Auto
mitnehmen
Arbeite ich nachts verlier ich die Lust am Tag
Das ist hart
Nimmt mich niemand mit habe ich keinen Job mehr
Das wäre das Ende
Das wäre scheiße
Muss ich wohl mit den Kollegen regeln
Doch dafür müsste man mal sprechen
Trotz der Ohrstöpsel hämmern die Maschinen in der Pause weiter auf
unser Schweigen ein
Warum was sagen und was überhaupt
Dass man es satt hat
Dass man am Wochenende kaum schläft
Aber so tut
Als ob
Alles gut läuft
Man einen Job hat
Auch wenns ein Scheißjob ist
Auch wenn man sich nicht ausruht
Verdient man was
Die Fabrik wird uns fressen
Frisst uns jetzt schon
Doch keiner sagt was
Denn in der Fabrik
Ists wie bei Brel
»Keiner sagt was
mein Herr
Keiner sagt was«
Die sollte man mal sehen
Unsere kaputten Gesichter
In der Pause
Die verhärteten Züge
Die verlorenen Blicke im Zigarettenrauch
Unsere entstellten Gesichter
Wie die der Gueules cassées im Ersten Weltkrieg
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